Gegen alle Zeit
Henry fasste sich mit der linken Hand ans rechte Handgelenk, das mit einem schmalen Leinentuch verbunden war und fürchterlich brannte. Und erst als er sich die Wunde gerieben hatte, begriff er, was das bedeutete: Er konnte seine Arme bewegen! Sie hatten vergessen oder es nicht für nötig erachtet, ihm die Lederfesseln wieder anzulegen. Auch seine Füße waren nicht in Ketten. Sein Herz machte einen Satz vor Freude, und er richtete sich mit Schwung auf. Ein Schwindel erfasste ihn, beinahe wäre er seitlich vom Tisch gefallen, und er musste sich rasch wieder hinlegen. Der Aderlass war nicht ohne Wirkung geblieben, Henry fühlte sich, als hätte man ihn wie einen nassen Lappen ausgewrungen.
Allmählich stieg ihm das Blut wieder in den Kopf, und seine Augen gewöhnten sich so weit an die Dunkelheit, dass er zumindest die Umrisse der Möbel erkennen konnte. Ganz langsam und vorsichtig richtete er sich ein zweites Mal auf, rieb sich die Schläfen und die Hände, in die erst nach und nach das Gefühl zurückkehrte. Gleichzeitig pochte es an den Schnittwunden. Dann ließ er sich seitlich von dem Steintisch herunter, bis er mit den Füßen den Boden berührte. Er stellte sich mühsam auf und fiel im nächsten Augenblick der Länge nach auf die Fliesen. Seine Beine trugen ihn noch nicht.
Während er auf dem Boden lag, horchte er angestrengt, ob sich im Vorraum etwas tat. Doch es blieb totenstill, sein Sturz war wohl nicht so laut gewesen, dass er seinen Wärter alarmiert hätte. Die Turmuhr von Bedlam schlug zur Mitternacht. Wieder wartete er eine Weile, und schließlich rappelte er sich so weit auf, dass er auf allen vieren um den Tisch herum und zu dem großen Wandregal krabbeln konnte. Wie in Zeitlupe hangelte er sich an den Brettern hoch und hoffte, das Regal möge stehen bleiben und er nicht mit einem Heidenlärm darunter begraben und erschlagen werden. Als er endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit und mit zittrigen Knien, in der Senkrechten stand, griff er in das kleine Schubfach, in dem Dr. Featherstone vor dem Gehen etwas verstaut hatte, und war überrascht, als er darin tatsächlich einen Bartschlüssel fand.
»Sehr unvorsichtig, Doktor!«, murmelte er leise und grinste.
Im Schneckentempo tastete Henry sich zu der Doppeltür vor, steckte den Schlüssel ins Schloss und konnte sein Glück kaum fassen, als die Tür sich öffnen ließ. Im Nebenraum war es noch dunkler als im Laboratorium, weil das Fenster, das nach Westen ging, kleiner war als das Südfenster nebenan. Allerdings war es ebenso vergittert, wie Henry enttäuscht feststellte. Und als sich seine Augen einigermaßen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und er die vier Wände abgetastet und inspiziert hatte, begriff er, warum Dr. Featherstone so sorglos mit dem Schlüssel umgegangen war. Es gab keine weitere Tür in diesem Raum.
Henry war in einer Sackgasse gelandet. Der Schlüssel hatte ihn keinen Schritt weitergebracht. Ernüchtert tapste er zum Fenster und schaute hinaus. Nur einen Steinwurf entfernt konnte er das Moorgate erkennen, das von Fackeln und Laternen beschienen war. Er ließ sich auf den Armstuhl sinken, der neben dem Fenster hinter einem wuchtigen Schreibtisch stand, und starrte auf die Flasche Sherry, die der Doktor auf dem Tisch hatte stehen lassen. Henry hatte den ganzen Tag noch keinen Bissen zu sich genommen und keinen Schluck Wasser getrunken, dafür aber literweise Blut verloren. Jetzt an dem Sherry zu nippen wäre eine unverzeihliche Dummheit. Und dennoch konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er setzte sich die Flasche an die Lippen und nahm einen großen Schluck. Der Sherry schmeckte erstaunlich gut und brannte wie Feuer in seinem Inneren, vor allem aber weckte er beinahe schlagartig seine Lebensgeister. Er nahm einen weiteren großen Schluck und spürte der Flüssigkeit nach, die sich in seinem ganzen Körper auszubreiten schien und eine wohlige Wärme mit sich brachte. Ein edler Tropfen!
Eigentlich hasste Henry Sherry, für ihn war es ein Alte-Frauen-Getränk, nur zu genießen, wenn man keine Zähne im Mund und eine lila gefärbte Dauerwelle auf dem Kopf hatte. Und wenn schon!, dachte er im nächsten Moment, nahm einen dritten Schluck und machte leise: »Aaah!«
Der Alkohol belebte ihn, er spürte seine Finger und Zehen wieder, das flaue Gefühl in der Magengegend war verschwunden. Und falls der Sherry ihn benebelte, so merkte er es wenigstens nicht. Ja, er hatte sogar das Gefühl, endlich wieder klar denken zu
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