Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
Mit wenigen Tritten hatte Henry die vernagelten Bretter aus dem Mauerwerk getreten und gelangte in einen größeren Raum, in den von irgendwoher diffuses Licht fiel. Es war nicht sofort zu erkennen, ob es sich um morgendliches Dämmerlicht oder den Schein einer Lampe handelte. Der Raum war quadratisch und hatte weder Fenster noch Türen. Er beinhaltete ein weiteres Wasserreservoir, das aber viel größer war als jenes in Wilds Haus. Verschiedene Rohre führten von dem Becken aus in unterschiedliche Richtungen und verschwanden jeweils in der Wand. An jedem dieser Rohre befand sich eine Klappe oder besser eine Scheide aus einem beweglichen Holzbrett, das man in Längs- oder Querrichtung stellen konnte. Wie bei einem Ofenrohr. Auf diese Weise ließ sich die Zufuhr des Wassers regeln.
    »Wo sind wir?«, wollte Henry wissen und suchte nach dem Ursprung des schwachen Lichts, das sie vermutlich nur wahrnahmen, weil sie aus der totalen Finsternis kamen.
    »Beim Wasserverteiler«, meinte Bess, deren weißes Unterkleid völlig verschmutzt und an der Hüfte zerrissen war. Sie band sich das Mieder zu und setzte hinzu: »Fragt sich nur, wie wir hier rauskommen!«
    Henry deutete nach oben. Er hatte erkannt, dass der Lichtschimmer durch einen kleinen Spalt in der Decke drang. Und direkt unter diesem Spalt stand eine Leiter an die Wand gelehnt. »Da geht’s raus!«
    Er stieg auf die Leiter, die zu einer Luke in der Decke führte. Diese Luke war wie bei einem Gully mit einem schweren Eisendeckel versperrt.
    »Verflucht, sie kommen!«, rief Blueskin und deutete auf den Schacht zu Wilds Haus, aus dem nun kratzende Geräusche zu hören waren. Dann jedoch lachte er und trat wie ein Verrückter auf die ausgehöhlten Ulmenstämme, bis eine der Kupplungen zwischen zwei Rohren brach. Er bog das untere Rohr zur Seite und öffnete das Wasserventil an der Zisterne. Das Wasser schoss aus dem geborstenen Rohr und direkt in den Schacht. Das Fiepen einer Ratte war zu hören, dann laute und panische Stimmen.
    »So ertränkt man Ratten«, meinte er grinsend.
    Henry hatte inzwischen den eisernen Deckel in Augenschein genommen und erleichtert festgestellt, dass er lediglich mit einem Schnappschloss gesichert war, das von der Unterseite ohne Weiteres zu entriegeln war. Er klappte den Deckel hoch und stieg hinauf. Dann wartete er auf Bess und zog sie an den Händen nach oben. Blueskin war nur wenige Sekunden später bei ihnen, immer noch mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
    Sie waren in einer Art Lager oder Büro gelandet. Ein Schreibtisch stand mitten im Raum, direkt daneben ein Stehpult. An drei Wänden standen Regale, die mit schweren Folianten, Schreibwerkzeugen und allerlei sonstigen Geräten gefüllt waren. Eine Tür und ein Fenster befanden sich in der vierten Wand, und ein Blick hinaus ließ Henry erkennen, dass sie wieder auf ebener Erde waren und dass der Morgen dämmerte. Die Tür war verschlossen, also stiegen sie durchs Fenster in einen Hof, der ringsum bebaut war. Über der Eingangstür des Hauses, das sie gerade verlassen hatten, war ein Schild angebracht: »New River Company«.
    Gleich neben dem Haus war eine Schänke mit einem goldenen Schwan als Erkennungszeichen. »Das Swan Inn«, sagte Blueskin und deutete durch eine Toreinfahrt auf die Straße. »Dann muss das da vorne Holborn Hill sein. Wir haben’s geschafft!«
    »Und wohin jetzt?«, fragte Henry.
    »Was ihr beiden Hübschen macht, interessiert mich nicht«, antwortete Blueskin und winkte mit der rechten Hand. »Ich jedenfalls leg mich aufs Ohr.«
    »Wild wird dich suchen«, sagte Henry.
    »Aber nicht finden«, lachte Blueskin und empfahl sich.
    »Warum hast du das gemacht?«, rief Bess ihm hinterher.
    »Was meinst du?«
    »Wieso hast du Macheath geholfen, mich aus dem Beichtstuhl rauszuholen?«
    Blueskin lachte und zuckte mit den Schultern. »Weil ich ein verdammter Dummkopf bin«, sagte er und lief eilends auf die Straße. »Und übrigens, sein Name ist Ingram.«

5

    Vom Holborn Hill zur Cross Keys Tavern war es nur ein Katzensprung, was auch deshalb ein Glück war, weil Bess in ihrem derangierten und halb entkleideten Zustand die neugierigen Blicke der morgendlichen Passanten auf sich zog. Also eilten Henry und Bess über den Markt von Smithfield, vorbei am St. Bartholomew’s Krankenhaus und durch den stinkenden Town Ditch nach Little Britain. Doch wenn sie gedacht hatten, Mutter Needham wäre froh oder erleichtert, sie wohlbehalten in ihrem Haus wiederzusehen, so hatten

Weitere Kostenlose Bücher