Gegen alle Zeit
unter der Schräge hervorlugten. Dann lief Blueskin die Treppe hinauf und verharrte oben auf dem Absatz.
»Los, komm!«, zischte er und winkte Henry zu sich.
Henry hatte keine Ahnung, was Blueskin vorhatte, doch da er selbst auch nicht wusste, was zu tun war, folgte er ihm und stellte sich neben ihn.
»Und jetzt?«, flüsterte Henry.
Blueskin deutete nach unten, doch er meinte nicht das Windlicht oder Mr. Wilds leblosen Körper, die sich direkt zu ihren Füßen befanden, sondern die beiden prall gefüllten Kornsäcke, die sie vorhin achtlos beiseitegelegt hatten.
Henry begriff und nickte.
Quilt Arnold erschien am vorderen Ende des Ganges und stellte verwundert fest, dass Jonathan Wild nicht auf ihn gewartet hatte. Dann ging er zur Treppe und sah die Kerze in dem zerbrochenen Windlicht auf dem Boden. Ein etwas dümmliches Brummen war zu hören, und dann ein Ausruf des Entsetzens, als er die Beine des Diebesfängers unter der Treppe bemerkte. Er kroch in den Spalt zwischen Mauer und Treppe, was ihm wegen seines Körperumfangs einige Mühe bereitete, zerrte an Mr. Wilds Füßen und schien erst jetzt zu begreifen, dass irgendetwas nicht stimmte. Dass er etwas übersehen oder vergessen hatte. Er hielt plötzlich inne, hielt das Licht in die Höhe und schaute nach oben.
Im nächsten Augenblick traf ihn Blueskins Getreidesack auf den Kopf. Quilt Arnold wurde nach hinten geschleudert und landete auf dem Hosenboden, doch bereits nach Kurzem rappelte er sich wieder auf und schüttelte den Kopf, als hätte er lediglich eine Kopfnuss bekommen.
»Mach schon!«, schrie Blueskin.
Henry hob den zweiten Sack in die Höhe und warf ihn mit aller Macht nach unten. Wieder landete der Sack auf Quilts Schädel, doch diesmal knallte der Kopf seitlich gegen die Mauer, der Riese torkelte und ging dann wie ein gefällter Baum zu Boden. Das Licht in seiner Hand erlosch.
»Maßarbeit«, meinte Blueskin anerkennend. »Und jetzt nichts wie weg!«
Er wandte sich dem Gewölbe zu und wollte davonrennen, doch Henry hielt ihn am Ärmel fest und sagte: »Erst holen wir Bess!«
Henry wartete nicht auf eine Erwiderung, sondern lief die Treppe hinunter, nahm die brennende Kerze aus dem zerbrochenen Windlicht auf dem Boden und betrat den Gang zum Beichtstuhl. Er wusste, dass Blueskin ihm folgen würde. Nicht aus Überzeugung oder Sympathie, sondern weil er nicht als Feigling oder Verräter gelten wollte.
4
Nach etwa zwanzig Schritten machte der Gang eine Biegung nach links, dann eine weitere nach rechts und endete schließlich an einer niedrigen, aus dicken Bohlen gezimmerten Holztür, deren schwerer Eisenriegel vorgeschoben war.
»Ist das der Beichtstuhl?«, fragte Henry über seine Schulter.
»Hm«, machte Blueskin.
Henry schob den Riegel zur Seite und öffnete die Tür. Als er in den Kerkerraum blickte, glaubte er, seine Augen oder das funzlige Kerzenlicht würden ihm einen Streich spielen.
Edgworth Bess stand mit ausgebreiteten Armen in der Zelle, hüpfte auf der Stelle und rief: »Da kommt das Licht zurück! Wie schön! Muss ich doch nicht im Dunkeln sterben?« Sie lachte und klatschte wie ein kleines Kind in die Hände. Ebenso erstaunlich wie die Tatsache, dass sie wie eine Betrunkene auf der Stelle schwankte und ihr die Worte schwerfällig und lallend über die Lippen kamen, war der Zustand ihrer Kleider. Sie hatte das rote Samtkleid an den Schultern und vor der Brust nach unten gezogen und das Mieder darunter vollständig geöffnet, sodass ihre großen Brüste zu sehen waren. Beim Hüpfen wippten sie auf und ab. Henry konnte seinen Blick nicht von ihrem Dekolleté abwenden.
»Hab ich doch gewusst, dass sie Euch gefallen, Sir«, lachte Bess und begann hektisch, an ihrem Ausschnitt herumzufuchteln und ihm die Brüste entgegenzustrecken. »Wusste ich’s doch! Eine Frau merkt so was. Nur Mut, greift ruhig zu! Ihr findet weit und breit nichts Vergleichbares.«
»Lass den Unsinn, Bess!«, rief Henry und wandte sich verwundert zu Blueskin um. »Was ist bloß in sie gefahren?«
Blueskin schien nicht erstaunt zu sein, er zuckte lediglich mit den Schultern und meinte: »Vermutlich haben sie ihr was ins Essen getan. Oder ins Wasser. Wäre nicht das erste Mal. Oder sie ist einfach übergeschnappt.«
»Te Deum Laudamus«, trällerte Bess und schlang ihre Arme um Henrys Hals. »Ich bin Euch auf die Schliche gekommen und hab aufgepasst. Nichts hab ich gesehen. Gar nichts! Und mein Mann hat sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Ganz bestimmt
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