Gegen alle Zeit
sie sich gründlich getäuscht. Die Bordellbesitzerin war alles andere als begeistert und machte aus ihrer Besorgnis keinen Hehl.
»O mein Gott!«, waren ihre ersten Worte, als sie im Nachtkleid und mit langer Seidenmütze auf dem Kopf an der Tür erschien, um die beiden Ankömmlinge in die Schänke zu lassen. »Was wollt ihr denn hier?«
»Freut Ihr Euch gar nicht, dass ich befreit bin?«, wunderte sich Bess.
»Doch, doch, mein Kind«, beteuerte die Kupplerin, schaute dabei jedoch ängstlich nach draußen, um sich zu vergewissern, dass niemand sie verfolgt hatte, und schloss anschließend die Tür. Dann fügte sie atemlos hinzu: »Aber hier kannst du nicht bleiben, Bess. Mr. Wilds Leute werden mich umbringen, wenn sie dich hier finden.«
»Wo sollen wir denn hin?«, fragte Henry.
»Raus aus London, wenn’s irgend geht«, antwortete Mutter Needham und wandte sich an Bess. »Pack deine Sachen und verschwinde, so schnell du kannst! Ich vermag dir nicht zu helfen, meine Liebe. Mit Mr. Wild lege ich mich nicht an. So leid es mir tut.«
Nachdem sich die beiden den Dreck von Gesicht und Händen gewaschen hatten und Bess ein neues Kleid angezogen und die übrigen Kleider in einer Reisetasche verstaut hatte, reichte Mutter Needham ihr einen leidlich gefüllten Geldbeutel und ein wenig Proviant. »Für den Weg«, sagte sie. Wohin auch immer. Dann wiederholte sie: »Es tut mir leid, meine Liebe.«
Nur eine halbe Stunde, nachdem sie die Cross Keys Tavern betreten hatten, standen sie wieder auf der Straße. Henry schaute zum gegenüberliegenden Friedhof von St. Botolph und dachte erneut an die Nacht, in der er zum Mörder geworden war. Denn davon war er inzwischen überzeugt. Er hatte Sean Leigh im Postman’s Park aus Eifersucht niedergeschlagen. Mit einer Eisenstange. Er konnte sich nicht erinnern, woher er sie hatte und wo sie geblieben war. Aber er wusste noch, dass sie schwer und rostig gewesen war. Und an ein Knacken glaubte er sich zu erinnern. Das Knacken von Knochen. Gefolgt von Sarahs entsetztem Schrei.
»Wohin?«, wurde er von Bess aus seinen Gedanken gerissen.
Henry erinnerte sich an Mutter Needhams Worte und antwortete: »Raus aus London. So weit wie möglich. Wie wär’s mit Edgware?«
»Edgware?«
»Edgworth«, verbesserte er sich und fragte sich, wann dieser Teil von London oder besser das Dorf bei London umbenannt worden war. »Da kommst du doch schließlich her, oder? Wohnen deine Eltern noch dort?«
»Keine Ahnung«, antwortete sie und starrte dabei auf ihre Finger. »Ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben. Sie haben mich verflucht und wie ein Tier vor die Tür gesetzt. Eher will ich sterben, bevor ich zu ihnen zurückkehre oder sie um Hilfe bitte.«
»Wenn du in London bleibst, wird dein Wunsch bald in Erfüllung gehen«, sagte Henry, nahm der wie angewurzelt dastehenden Bess die Reisetasche ab und zog sie mit sich in Richtung Aldersgate. »Dafür wird Mr. Wild schon sorgen. Was will der Kerl überhaupt von dir? Warum hat er dich in seinem Privatkerker eingesperrt und mit Drogen vollgepumpt? Was wollte er von dir hören? Und was hat das Ganze mit Mr. Pepusch und dem toten Musiker zu tun?«
Bess durchzuckte es wie ein Stromschlag. »Maestro Pepusch!«, rief sie und riss sich los. »Wir müssen ihn warnen. Sein Leben ist in Gefahr.«
»Was hat Pepusch mit Jonathan Wild zu schaffen?«, fragte Henry, als sie die Aldersgate Street erreicht hatten. »Ich dachte, es geht um Jack Sheppard.«
Bess schüttelte den Kopf und zuckte dann mit den Schultern. »Ich weiß es doch auch nicht!«, rief sie und wandte sich nach Norden. »Ich weiß nur, dass bisher zwei Menschen gestorben sind und ich beinahe der dritte gewesen wäre. Und Mr. Pepusch wird es als Nächsten treffen, wenn wir ihn nicht warnen.«
»Willst du mir nicht endlich erzählen, was los ist?«
Während sie nach Norden in Richtung Islington gingen, berichtete Bess in knappen, sprunghaften und für Henry oft unverständlichen Sätzen von dem, was ihr in den letzten Jahren widerfahren war. So erfuhr er von dem Oboisten Albrecht Niemeyer, mit dem sie einst eine Liebschaft gehabt hatte und der sich gestern angeblich in seiner Kammer erhängt hatte. Und von ihrem Gatten Matthew, der den beiden auf die Schliche gekommen war und sich vor drei Jahren anscheinend ebenfalls das Leben genommen hatte. Sie erwähnte den Herzog von Chandos und sein prächtiges Cannons House, den Schriftsteller John Gay, der inzwischen in der Gärtnerkate des
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