Gegen alle Zeit
Grafen von Burlington wohnte, und den deutschen Kapellmeister des Herzogs. Wie das jedoch alles zusammenhing und was Johann Pepusch mit Jonathan Wild zu tun hatte, das begriff Henry nicht. Bess schien es selbst nicht zu wissen, oder sie stand noch zu sehr unter dem Einfluss des Opiums, um die Zusammenhänge durchschauen oder verständlich wiedergeben zu können. Immer wieder sagte sie: »Er war zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Wer?«
»Matthew.«
»Und welcher Ort war der falsche?«
»Little Stanmore Inn.«
Henry kannte eine Londoner U-Bahnstation namens Stanmore. Die nördliche Endhaltestelle der Jubilee Line. Nicht weit entfernt von einer anderen Endstation: Edgware. Deshalb fragte er: »In der Nähe von Edgworth?«
Bess nickte abwesend, blieb plötzlich stehen und schaute sich suchend um. Sie hatten mittlerweile die Goswell Road in Clerkenwell erreicht und standen vor einem Gasthaus, das gleichzeitig als Kutschstation diente. »Wo sind wir?«, fragte sie und rieb sich die Augen, als wachte sie aus einem Traum auf.
»Auf halbem Weg nach Islington«, vermutete Henry.
Bess nahm ihm die Reisetasche ab, die er auf der Schulter getragen hatte, und fragte: »Würdest du mir einen Gefallen tun?«
»Kommt drauf an«, antwortete Henry vorsichtig.
»Finde Mr. Pepusch und sag ihm, dass er sich vorsehen soll.«
»Das weiß er auch so, ohne dass ich es ihm sage. Schließlich haben sie ihm gestern die Nase zerschnitten.«
»Nein«, beharrte Bess und drückte Henrys Hand. »Du musst ihn warnen, Macheath! Er soll sich verstecken.«
Henry zuckte mit den Achseln und fragte: »Und du?«
»Ich fahre nach Little Stanmore«, antwortete sie und betrachtete eine zweispännige Postkutsche, die vor der Schänke stand und deren Pferde von einem Knecht mit Wasser versorgt wurden. »Denn dort hat alles angefangen. Im Little Stanmore Inn.«
»Kann ich nicht mitkommen?«, fragte Henry, ohne Bess dabei anzuschauen.
Bess schüttelte den Kopf. »Finde Mr. Pepusch und bring ihn in Sicherheit! Versprich es mir!«
Henry nickte, hielt weiterhin ihre Hand und fragte: »Sehen wir uns wieder?«
»Du weißt, wo du mich findest«, antwortete Bess und schaute dabei zu Boden, als hätte sie dort etwas verloren. Dann entzog sie ihm ihre Hand, winkte ihm zum Abschied zu und rannte zur Postkutsche. Ein Mann in Uniform hatte gerade auf dem Kutschbock Platz genommen und griff zur Peitsche.
»Wo soll’s hingehen, Ma’am?«, fragte er, als Bess herangestürmt kam.
»Nach Norden«, rief sie.
»Norden soll’s sein«, antwortete der Kutscher lachend und wartete, bis Bess die Kutsche bestiegen hatte. Dann knallte die Peitsche, die Pferde schnaubten, und die Kutsche setzte sich ruckend in Bewegung.
6
Während Henry recht orientierungslos durch Clerkenwell irrte und vergeblich nach Gebäuden oder Straßen Ausschau hielt, die ihm irgendwie bekannt vorkamen, ging er in Gedanken noch einmal die verwirrenden und zusammenhanglosen Worte durch, die er aus Bess’ Mund gehört hatte. Vor allem die Erwähnung des Schriftstellers John Gay hatte ihn aufhorchen lassen. Sein Verdacht in Bezug auf Bess war also richtig gewesen, und es kam ihm nun beinahe wie ein Geschenk des Himmels vor, dass Bess ganz beiläufig Gays Wohnort erwähnt hatte: Burlington House an der Piccadilly in Westminster. Heute befand sich in dem Gebäude die Royal Academy of Arts. Erst vor wenigen Monaten hatte Henry dort eine Kunstausstellung besucht. Nun würde er das Gebäude bald wiedersehen und hoffentlich auch betreten können. Oder zumindest das kleine Gärtnerhaus, das Bess erwähnt hatte.
Um Johann Christoph Pepusch machte sich Henry weniger Sorgen. Zwar hatte er Bess versprochen, den deutschen Kapellmeister zu suchen und vor Wild zu warnen, und er beabsichtigte keineswegs, dieses Versprechen zu brechen, doch anders als Bess glaubte er nicht, dass Pepusch in akuter Lebensgefahr war. Nein, er wusste , dass sein Leben nicht bedroht war. Erst in einigen Jahren würde Pepusch die Musik zur Beggar’s Opera komponieren oder besser zusammenstellen (denn das meiste hatte er schlicht bei anderen Komponisten geklaut), also konnte er im Jahr 1724 nicht von Jonathan Wild ermordet werden. Denn dann gäbe es keine Beggar’s Opera . Jedenfalls nicht in der heute bekannten Fassung.
Wie vom Blitz getroffen fuhr Henry plötzlich zusammen. Ein fürchterlicher Gedanke schoss ihm durch den Kopf und ließ ihn nicht mehr los. Wer sagte denn, dass Geschichte unveränderlich war? Wäre das
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