Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
Arbeit erleichtern. Feinster Brandy aus dem Black Lion! Mit den besten Grüßen vom Wirt.«
    »Seit wann gibt’s im Black Lion feinen Brandy?«, lachte Godfrey. »Ich krieg dort immer nur billigen Fusel serviert.«
    »Wie immer hast du noch ein Ass im Ärmel, Bess«, meinte Blueskin lächelnd und sah sie an, als hätten seine Worte einen geheimen Hintersinn.
    »Wenn’s sonst keiner hat«, antwortete Bess knapp, ohne ihn dabei anzuschauen. Ja, Henry hatte sogar das Gefühl, dass sie Blueskins Blick auswich. Weil sie ihre Augen zu Boden gerichtet hatte, stieß sie beinahe mit Henry zusammen, der sich nicht vom Fleck bewegt hatte und ihr im Weg stand.
    »Platz da!«, schnauzte sie ihn an und schaute ihm eher beiläufig ins Gesicht.
    »’tschuldigung«, sagte er kleinlaut und starrte Bess unverwandt an. Ohne es zu wollen und obwohl sie keinerlei Ähnlichkeit miteinander hatten, hatte Henry plötzlich Sarahs Gesicht vor Augen. Er sah ihre verwuschelten blonden Haare, die geröteten Wangen und ihren schuldbewussten Blick, als er sie mit Sean Leigh hinter der Bühne ertappt hatte. Miss Polly Peachum in den Händen ihres Vaters.
    »Hast du ’nen Geist gesehen, oder warum glotzt du mich so an?«, fragte Bess.
    »Kann man so sagen«, meinte Henry und räusperte sich. »Ein Geist, ja.«
    Bess schüttelte ärgerlich den Kopf, stieß ihn beiseite und wandte sich an die Runde: »Wollt ihr hier noch lange Maulaffen feilhalten oder euch nützlich machen? Auf geht’s!« Damit stapfte sie zum Tor, und alle anderen folgten ihr wie Gänseküken ihrer Mutter.

3

    Das Newgate-Gefängnis war nur eines von unzähligen Gefängnissen in London, aber es war das mit Abstand bekannteste und berüchtigtste seiner Zeit. Einige Szenen der Bettleroper spielten in den Zellen von Newgate, und deshalb hatte Henry im Internet ein wenig über die grausigen Zustände in dem Gefängnis recherchiert. »Ein Ort der Not, ein Wohnhaus des Elends, eine bodenlose Grube der Gewalt«, so hatten Zeitgenossen das alte Newgate beschrieben. Das galt zumindest für jene Insassen, die es sich nicht leisten konnten, die Wärter und Schließer zu bestechen. Für alles und jedes musste ein Pfand oder Handgeld gezahlt werden, beim Eintritt wie bei der Entlassung war eine Zahlung an den Kerkermeister fällig, sogar für die bloße Unterkunft und Verpflegung wurde ein saftiger Obolus verlangt, gerade so, als befände man sich in einem Hotel oder einer Herberge. Ja, selbst für Fesseln und Ketten musste man bezahlen.
    Nichts war umsonst oder selbstverständlich, aber alles war für Bares zu bekommen, sogar Putzfrauen, Huren und Alkohol, der in der gefängniseigenen Kneipe gebrannt und verkauft wurde. Wer jedoch kein Geld hatte, um die exorbitanten Preise in diesem schauerlichen Gasthaus zu bezahlen, der landete unweigerlich in einer der düsteren Massenzellen und schlief unter einer zerfetzten Decke auf dem verdreckten Steinboden, den er sich nicht nur mit Hunderten Leidensgenossen, sondern auch mit Flöhen, Läusen und Ratten teilen musste. Kein Wunder, dass ansteckende Krankheiten nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren. Angeblich brachten Typhus und Fleckfieber jeden vierten Gefangenen von Newgate um, bevor der Galgen von Tyburn es tun konnte.
    Von außen betrachtet, machte das Gefängnis jedoch einen durchaus ansprechenden, fast angenehmen Eindruck. Das zentrale Torhaus, das nördlich und südlich der Newgate Street von zwei weiteren Gefängnisgebäuden gesäumt war, erinnerte Henry an eine herrschaftliche Festung oder Burg. Die beiden sechseckigen Türme waren fünf Stockwerke hoch und mit Zinnen bewehrt, und über dem Bogengang zwischen den Türmen waren Säulen mit hübschen Kapitellen, verschnörkelte Statuen und reich verzierte Ornamentfenster zu sehen, die so gar nicht zu einem Gefängnis passen wollten. Gerade im Vergleich zu dem plumpen Aldgate auf der anderen Seite der Stadt wirkte das Newgate beinahe einladend. Auch wenn niemand diese Einladung freiwillig annahm.
    »Was war ’n das gerade mit dir und Bess?«, fragte Blueskin, als sie das Wärterhaus, die sogenannte Lodge, durch eine niedrige, mit Eisen beschlagene Holztür im südlichen Turm betraten und in einer Art Vorraum landeten, dessen Zweck Henry unklar blieb. Vielleicht hatte sich hier einmal der Zugang zu einem Treppenhaus befunden, jedenfalls gab es keine Möbel oder sonstige Gerätschaften in diesem kargen und dunklen Raum.
    Henry zuckte mit den Schultern und antwortete mit einer Gegenfrage:

Weitere Kostenlose Bücher