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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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ohne Mieder und Dekolleté, mit langen Ärmeln und hochgeschlossenem Kragen. Die Kleidung einer Puritanerin oder Gesindefrau, sah man einmal von dem unpassenden Federschmuck auf ihrem Kopf ab. Auch der Fächer aus Seide und Spitze, den sie halb vors Gesicht hielt, wollte nicht zu einer einfachen Magd passen.
    Dem Schließer schien dieser Widerspruch nicht aufzufallen. Auch dass eine der beiden Frauen vorhin nicht von ihm in den Todestrakt hineingelassen worden war, schien ihm zu entgehen. Wenn sie drinnen waren, mussten sie schließlich auch hineingelangt sein. Und zwar durch diese Tür. Er erhob sich schwerfällig von seinem Hocker und schaute in seine Liste, die vor ihm auf dem Tisch lag. Dann öffnete er gelangweilt die Gittertür, ließ die Frauen mit einem Kopfnicken passieren und wollte die Tür wieder schließen, als plötzlich ein Tumult im Wärterraum ausbrach.
    Genau in dem Moment, als der Schließer die Gittertür geöffnet hatte, stieß Godfrey seinen Bruder George an, und dieser prallte, wie von einer Kanonenkugel getroffen, rücklings gegen das Wärterpult, sodass einer der schweren Folianten auf dem Boden landete und der Wärter erschrocken zur Seite sprang.
    »Was fällt dir ein, mich anzurempeln, Kerl?«, schrie Godfrey außer sich.
    »Wer hat hier wen angerempelt?«, fauchte George und setzte die verrutschte Biberfellmütze wieder gerade auf seinen Kopf. »Dir werd ich’s zeigen, Halunke!« Und schon stürzte er sich auf seinen Bruder, als ginge es um sein Leben.
    Während die beiden Männer sich wie balgende Kinder auf dem Boden herumwälzten und dabei gegen jedes Mobiliar stießen, das irgendwie in Reichweite stand, beeilten sich Poll und ihre schmächtige Begleiterin, sich zum Ausgang zu begeben. Niemand schenkte ihnen Beachtung, alle Augen waren auf die Kämpfenden gerichtet, und so verschwanden sie schleunigst durch den Korridor nach draußen.
    »Heda, Kerle!«, schrie der Wärter am Pult. »Aufhören mit dem Unsinn!«
    Doch George und Godfrey hatten sich derart ineinander verkeilt, dass sie wie eine verbeulte Kugel durch den Raum kullerten.
    Die beiden Wärter im Gewölbe wollten sich ebenfalls ins Getümmel werfen, wurden aber von Jenny zurückgehalten, die sich nun regelrecht auf die beiden Männer warf und sie unter sich begrub. Zur gleichen Zeit hatte der andere Wärter hinter dem Pult einen hölzernen Prügel hervorgeholt und schlug damit auf die Kampfhähne ein, deren Schmerzensschreie nun sehr viel glaubhafter wirkten.
    Auch der Schließer an der Gittertür wollte seinen Anteil am Geschehen haben und verließ seinen Posten hinter der Tür, doch im gleichen Augenblick wurde er von dem Hauptwärter angeschnauzt: »Was soll das, Schwachkopf? Scher dich zurück hinters Gitter! Du hast hier vorne nichts verloren.«
    Der derart Gescholtene ging zurück an seinen Platz und stieß beinahe mit Bess zusammen, die ihm aus dem Dunkeln entgegenkam und im gleichen Augenblick durch die Tür wollte.
    »He, wo kommst du denn her?«, rief der Schließer verdutzt, schob Bess zurück in den Todestrakt und zog die Gittertür ins Schloss. Er starrte abwechselnd auf seine Liste und in Bess’ Gesicht und schüttelte den Kopf. »Wer bist du?«
    »Verdammt!«, hörte Henry die Stimme von Jenny im Gewölbe.
    Und wie auf einen unhörbaren Befehl hin stellten die beiden Kampfhähne auf dem Boden ihre unsinnige Keilerei ein.
    »Raus mit euch!«, fauchte der Wärter und drosch abermals mit dem Prügel auf die Zwillinge ein. Die beiden Wärter aus dem Warteraum hatten sich inzwischen der entsetzt und wie versteinert wirkenden Jenny entledigt und halfen ihrem Chef, die Streithähne vor die Tür zu setzen. Godfrey und George ließen es ohne jeden Widerstand geschehen, wurden mit Fußtritten und Fausthieben zum Vorraum getrieben und von dort wie Abfall in die Gosse geworfen.
    Jenny Diver hastete ebenfalls zum Ausgang und raunte Henry im Vorbeigehen zu: »Los, raus mit dir! Wir können nichts für sie tun.«
    Doch Henry blieb wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen. Er kam sich vor wie im Kino und schaute gebannt zu Bess, die hinter dem Gitter auf den Schließer einredete, aber nur verständnisloses Kopfschütteln erntete. Mr. Pitt, der Kerkermeister, war noch nicht wieder an seinem Platz hinter dem Pult, und auch die beiden Wärter aus dem Gewölbe standen noch im Korridor, um Jenny ein paar Handgreiflichkeiten mit auf den Weg zu geben. Es war Eile geboten, und bevor sich Henry recht überlegen konnte, was er

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