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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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    STERN    Ich glaube schon. Es ist nach wie vor ein hoch emotionales Thema, deshalb ja auch meine Sorge. Es wird viele Stimmen geben, die sagen, dass Deutschland durch den Versailler Vertrag ganz besonders hart getroffen war und dass es ohne diese überzogenen Forderungen niemals zu Hitler gekommen wäre. Die Argumente sind zwar längst bekannt, aber sie werden wieder hochkommen.
    FISCHER    Hätte ein milderer Frieden die Deutschen milder gestimmt, weniger revisionistisch und aggressiv?
    STERN    Joschka, das ist eine hochinteressante Frage.
    FISCHER    Ich gehöre da zu den Zweiflern.
    STERN    John Maynard Keynes, der große Ökonom, der an den Verhandlungen teilgenommen hat, hat die Reparationen schon 1919 heftig kritisiert und für einen sehr viel großzügigeren Frieden geworben. Keynes hatte vor allem finanzielle und ökonomische Bedenken; er meinte, dass die Deutschen gar nicht in der Lage wären, den Forderungen nachzukommen, und dass das zu enormen Verwerfungen in ganz Europa führen werde. Obwohl ich Keynes’ Ansichten weitgehend teile, halte ich doch die psychologischen Auswirkungen des Versailler Vertrages für noch viel schlimmer als die wirtschaftlichen. Es gibt einen bekannten englischen Historiker, A. J. P. Taylor, der gesagt hat, was die Deutschen nicht verkraften konnten, war die Niederlage. Und deshalb sind sie endlos auf dem Versailler Vertrag rumgeritten, ganz besonders auf Artikel 231, der Kriegsschuldfrage. Man muss fairerweise allerdings hinzufügen, dass die Friedensbedingungen sehr hart waren, insbesondere die Reparationsforderungen. Als die Einzelheiten bekannt wurden, waren die Deutschen tief erschüttert, und zwar durch alle politischen Lager bis hin zur Sozialdemokratie. Die Tränen, die da geflossen sind, sind zunächst einmal die Tränen von Patrioten.
    FISCHER    Das ist ja genau, was Taylor sagt: Die deutschen Eliten konnten 1918 die Niederlage nicht verwinden. In Versailles bekamen sie es schwarz auf weiß.
    STERN    Ich möchte da doch auf eine Unterscheidung Wert legen. Die große Mehrheit der Deutschen war über die Behandlung der Kriegsschuldfrage und die Höhe der Reparationen entsetzt. Selbst die «Gemäßigten», die sich während des Krieges für einen Verständigungsfrieden und für innere politische Reformen eingesetzt hatten, waren schockiert. Viele Deutsche hatten geglaubt, Deutschland sei in diesen Krieg hineingezogen worden. Jetzt hieß es plötzlich, Deutschland habe diesen Krieg gewollt. Was ich sagen will: Das waren die Tränen von Patrioten, die in ihrem Glauben zutiefst erschüttert waren, nicht die Tränen von Rechtsradikalen und künftigen Nazis.
    FISCHER    Ich sage nicht, dass es Rechtsradikale waren. Ich sage nur, dass der Versailler Vertrag von der politischen Rechten hemmungslos zur Agitation benutzt wurde.
    STERN    Das ist gar keine Frage. Ich muss hier schnell eine Geschichte einschieben, die von dem ehemaligen Außenminister Gustav Stresemann handelt. Ob sie wahr ist, kann ich nicht beschwören. Die Geschichte spielt in Locarno, auf dem Höhepunkt der deutschen Annäherungspolitik an die Westmächte. Stresemann fängt an, über die Härte des Vertrags zu klagen, der alle Friedensbemühungen Deutschlands behindere. Da soll ihm Austen Chamberlain, der damalige britische Außenminister, auf die Schulter geklopft und gesagt haben: «Wenn Sie so weiterreden, fangen wir noch alle an zu weinen.»
    FISCHER    Wenn ich das Ganze jetzt mal dialektisch angehe, komme ich im Lichte der Geschichte, deren Ergebnisse wir ja heute kennen, zu dem Schluss, dass die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation, die die Alliierten im Zweiten Weltkrieg aufgestellt haben …
    STERN    Casablanca.
    FISCHER    … dass das eine richtige, ja notwendige Entscheidung war. Auch und gerade unter dem Gesichtspunkt eines Neuanfangs in Deutschland.
    STERN    Casablanca war vor allem begründet durch die Sorge vor einer neuen Dolchstoß-Legende. 1918 hatten viele Deutsche ja das Gefühl, durch Verrat der Heimatfront um den Sieg gebracht worden zu sein – im Felde unbesiegt, lautete die Parole.
    FISCHER    Und der Kaiser hatte von seinen Deutschen, nach all den Millionen von Toten und Verstümmelten, keine sehr hohe Meinung mehr, als er sich aus dem Staub machte.
    STERN    Bei seiner Ankunft in Holland sagte er: «And now for a nice cup of English tea». Über das deutsche Volk hat er sich nach dem November 1918 sehr abfällig

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