Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
geäußert. Die Deutschen seien so undankbar. In erster Linie meinte er natürlich die Juden, die Juden und die Marxisten.
FISCHER Ich komme noch mal auf den Mangel an Geschichtsbewusstsein zurück. Als Kind bin ich so aufgewachsen: Da gab es den Dreißigjährigen Krieg, der war präsent in den Volksnarrativen, in den Liedern – Flieg, Käfer flieg, Pommernland ist abgebrannt, und solche Dinge, auch historische Flurnamen oder der berüchtigte Schwedentrunk und die ganzen Gräuelberichte –, und dann gab es den Zweiten Weltkrieg, der die Gräuel sozusagen ins Gigantische gesteigert hatte, wo aber vor allem von Verlusten, «unseren Verlusten» die Rede war. So bin ich aufgewachsen.
STERN Dazwischen gab es zum Beispiel noch Bismarck.
FISCHER Ja, aber in Süddeutschland nicht allzu sehr.
STERN Aber der Erste Weltkrieg muss in Ihrer Kindheit noch durch Zeitzeugen präsent gewesen sein. Genauso wie für mich.
FISCHER Gewiss, mein Großvater mütterlicherseits kam nicht wieder. Da war auch der etwas komische Opa eines Freundes, den keiner mehr so ganz für voll nahm, aber der wirkte wie aus einer anderen Zeit. In den fünfziger Jahren wurde alles vom Zweiten Weltkrieg und dem aktuellen Kalten Krieg überragt. Und auch wo es um den Ersten Weltkrieg ging, war der überwiegend Vorgeschichte zum zweiten, noch sehr viel schlimmeren großen Krieg.
STERN Bei den Engländern ist der Erste Weltkrieg bis heute gegenwärtig. Er bestimmt nach wie vor die große kollektive Erzählung von Englands Rolle im 20. Jahrhundert. Die grauenhaften Erfahrungen, die die Engländer im Ersten Weltkrieg machten, haben das Selbstverständnis der Nation und ihr Verhältnis zu Deutschland weit mehr geprägt als der Zweite Weltkrieg. Noch 1989/90, als Mrs. Thatcher gegen die Wiedervereinigung zu Felde zog, stand dahinter vor allem die traumatische Erfahrung von 1914/18.
FISCHER Vielleicht weil dieser Krieg auch das Ende der britischen Weltmachtstellung einleitete?
STERN Das glaube ich nicht. Den Verlust des Imperiums hat man erst nach 1945 wirklich realisiert. Nein, es war der Blutzoll. Nehmen Sie die Somme-Offensive im Juli 1916, da verloren die Briten an einem einzigen Tag 60.000 Mann – die höchsten Verluste in der britischen Kriegsgeschichte. Diese Opferzahlen haben sich tief ins Gedächtnis der Nation eingegraben und auch eine bedeutende Literatur hervorgebracht, deren einziges Thema das Verbluten einer ganzen Generation ist. Denken Sie an Evelyn Waugh und D. H. Lawrence.
FISCHER Für eine Seemacht waren solche Größenordnungen an Verlusten wohl schlicht und einfach nicht vorstellbar. Aber wie war es bei den Franzosen? Wie ist das Verhältnis zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg in der Wahrnehmung Frankreichs?
STERN Im Vordergrund stehen heute wohl die Versöhnung und das Verständnis. Es gibt ein weit verbreitetes Gefühl, dass die Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland eine historisch bedingte Feindschaft war, über die man heute aber hinweg ist. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wird sehr stark von der Vorstellung bestimmt, dass Frankreich und England gemeinsam kämpften und dass die furchtbaren Opfer gemeinsame Opfer waren. Diese Gemeinsamkeit wird bis heute gepflegt, auch an den Gräbern.
FISCHER Auf jeden Fall ist der Erste Weltkrieg in Frankreich präsent. Der Waffenstillstandstag am 11. November ist in Frankreich nach wie vor von großer Bedeutung.
STERN Absolut. Dass Frau Merkel 2009 als erste deutsche Regierungschefin an den Feierlichkeiten teilnahm und gemeinsam mit dem französischen Präsidenten die ewige Flamme der Erinnerung am Arc de Triomphe neu entzündete, war eine große Geste.
FISCHER Bei uns gedenkt kaum jemand mehr der Opfer des Ersten Weltkriegs, vermutlich aus denselben Gründen, aus denen er für die Briten und Franzosen heute noch diese große Bedeutung hat – nämlich wegen des Schocks über die Verluste. Hier dominiert für die Deutschen eindeutig der Zweite Weltkrieg. Hinzu kommt noch die Scham über und die Auseinandersetzung mit den entsetzlichen deutschen Verbrechen unter Hitler, an erster Stelle der Mord an den europäischen Juden. In der Erinnerungskultur der Bundesrepublik – jenseits der Historiker – hat der Erste Weltkrieg nie eine wirkliche Rolle gespielt.
STERN Das scheint mir übertrieben. Trotzdem hochinteressant, was Sie sagen. Sie haben recht, die wichtigsten Bücher über den
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