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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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die Gesundheitsreform kommt ja zu einem großen Teil aus dieser Gruppe, die darin eine Umverteilung zu ihren Lasten sieht.
    FISCHER    Das Umverteilungsargument finden Sie überall. Das kommt nicht nur von rechts, das kann auch in linken Gewändern daherkommen, es ist immer dieselbe Haltung, oft mit einem starken Schuss Xenophobie vermischt. Wobei kleine Nationen sich sehr viel schneller durch Zuwanderung in ihrem Lebensgefühl in Frage gestellt sehen. Denken Sie an den Erfolg dieses blonden Recken in den Niederlanden.
    STERN    Da wären wir dann bei der Frage nach der Zukunft des Multikulturalismus. Das ist für viele Leute sehr hart zu schlucken.
    FISCHER    Halt, halt, halt. Jetzt müssen wir präzise sein. Was heißt Multikulturalismus? In Deutschland heißt es jedenfalls etwas völlig anderes als in den Niederlanden oder in Großbritannien. Dort heißt Multikulturalismus, man akzeptiert die Integrität ethnischer oder religiöser Communities, die dann nach ihrer eigenen Fasson selig werden sollen. So weit ist Deutschland nie gegangen, das muss man so deutlich sagen. Bei uns heißt Multikulturalismus, ob wir Zuwanderung anerkennen.
    STERN    In den Niederlanden, in Großbritannien, auch in Frankreich und einigen weiteren Staaten Europas ist Multikulturalismus das Erbe des Imperialismus.
    FISCHER    Nicht ganz, wenn sie an die Nordafrikaner in den Niederlanden denken. Es gibt in Europa jedenfalls unterschiedliche Interpretationen von Multikulturalismus, auch unterschiedliche Realitäten. Man muss da schon sehr genau sein. In den USA gehört der Nativism – also der Anspruch auf Sonderrechte für diejenigen, die bereits etabliert sind, und der Widerstand gegen Neuankömmlinge und Einwanderer – von Anfang an eindeutig dazu.
    STERN    Trotzdem waren die USA immer ein Einwanderungsland, das es verstanden hat, die verschiedenen Gruppen mehr oder weniger zu integrieren. Darauf war man mit Recht stolz. Denken Sie nur an die Freiheitsstatue und Ellis Island als Hafen der Hoffnung für Flüchtlinge und Verfolgte. Heute hingegen dominiert die Furcht vor Überfremdung. Vor zwei Wochen stand in der «New York Times», dass die Geburtenrate bei weißen Kindern dramatisch zurückgegangen ist und heute bei unter 50 Prozent der nichtweißen Kinder liegt. Die Latinos sind dabei, beinahe Bevölkerungsmehrheit zu werden, und das bedeutet für ein klassisches Einwanderungsland wie die USA schon einen qualitativen Unterschied. Bisher stand die Einwanderung, wenn ich das so sagen darf, unter weißen Vorzeichen.
    FISCHER    Und Englisch bleibt vorerst die dominante Sprache, auch wenn sich die USA in Richtung eines zweisprachigen Landes entwickeln.
    STERN    Ich komme noch mal zurück auf die Verdummung – mir fällt kein besseres Wort ein im Augenblick. Ich meine die immer größere Vernachlässigung der reinen Fakten des amerikanischen politischen Systems. Das geht inzwischen so weit, dass Freunde von mir und ich ernsthaft darüber nachdenken, eine öffentliche Kommission anzuregen aus Republikanern und Demokraten, die festlegen soll, welche Fakten man als amerikanischer Bürger auf jeden Fall wissen muss – also von der Verfassung über das Rechtssystem bis zum Wahlsystem. Das ist ungeheuer wichtig. Wahrscheinlich können Sie sich kaum vorstellen, wie wenig die Leute bei uns wissen. Aus purer Unkenntnis fordern sie, der Staat muss abgebaut werden. Hier kann gezielte Erziehung eine Menge bewirken.
    FISCHER    Wenn man in Amerika bestimmte Sender einschaltet, also etwa die täglichen Nachrichten von «Fox News», dann hat das in der Tat keinen Nachrichtenwert, das ist Propaganda im Stile von Eduard von Schnitzlers unseligen Angedenkens «Schwarzem Kanal».
    STERN    Gut, dass Sie «Fox News» erwähnen. Dieser Sender ist für einen großen Teil der amerikanischen Öffentlichkeit das einzige Mittel, sich zu informieren.
    FISCHER    Aber zum einen betrifft dieser Niedergang nicht nur Amerika, und zum anderen haben Sie auch in Amerika hervorragenden Journalismus bis in den Unterhaltungsbereich hinein. Der Qualitätsjournalismus findet seine Nischen.
    STERN    Vollkommen richtig. Aber es sind Nischen.
    FISCHER    Dieses Problem haben Sie überall. Eigentlich müsste jemand «Strukturwandel der Öffentlichkeit Teil 2» schreiben. Jürgen Habermas wird das nicht mehr tun, aber die Transformation von Öffentlichkeit, die wir gegenwärtig erleben …
    STERN    Und die immer dynamischer

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