Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
weitergeht.
FISCHER Das müsste mal systematischer durchdacht und aufgearbeitet werden, weil hier in der Tat ein Kernbereich der Demokratie betroffen ist. In der Massendemokratie spielt das noch eine sehr viel größere Rolle als früher, denn wenn eine Massendemokratie der Propaganda erliegt, könnte daraus ein ernsthaftes Problem entstehen. Aber machen wir uns auch hier nichts vor: Amerika geht voran, der Rest der Welt folgt. – Ich frage mich übrigens, ob es richtig ist zu sagen, dass Angst so viele Amerikaner für die Parolen der Tea Party empfänglich macht. Vielleicht ist es ja doch mehr. Vielleicht hat es tatsächlich mit einer allgemeinen Niedergangerfahrung des Westens zu tun, auf die man durch ein aggressives «America first!» reagiert.
STERN Ich glaube, man sollte ein anderes Wort benutzen: Verunsicherung. Dass so viele Amerikaner sich in eine Gated Community zurückziehen, das darf man nicht unterschätzen.
FISCHER Ja gut, aber dass man sich in solche geschützten Wohnviertel zurückzieht, hat ja wiederum mit dem verachteten Staat zu tun, der nicht in der Lage ist, die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren. 2006 war ich mehrere Monate in Princeton, und da saß ich mit meiner Frau mehr als ein Mal abends am Küchentisch, und wir sprachen darüber, was wir so am Tag erlebt hatten, privat oder an der Universität, und unser genereller Eindruck war der, dass du als deutscher Steuerzahler zwar etwas mehr bezahlst, dass du aber sehr viel mehr an staatlichen Leistungen zurückbekommst. In Deutschland musst du nicht in eine Gated Community ziehen. In Princeton war völlig klar, in welchem Distrikt du wohnen musst, und wenn du im Nachbardistrikt wohntest mit einem schulpflichtigen Kind, dann hattest du schlechte Karten.
STERN Also Princeton kenne ich ziemlich gut …
FISCHER Ganz Princeton könnte man fast als eine Gated Community bezeichnen.
STERN Genau besehen, vielleicht nicht, es gibt auch verarmte Viertel, schwarze Viertel. Aber es gibt überall im Land diese Gated Communities, und das ist nicht nur symbolisch wichtig, es ist auch realpolitisch wichtig. Wer dort lebt, lebt abgeschnitten von der Mehrheit und will abgeschnitten sein, geschützt nicht nur vor Räubern und Dieben, sondern vor allem vor fremden Einflüssen. Und das meine ich mit Verunsicherung. Man bleibt unter sich und geht dem Fremden aus dem Weg. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich im Augenblick nicht schildern kann, wie das alles zusammenhängt. Aber ich bin davon überzeugt, dass die kulturelle Spaltung des Landes, die fortschreitende Verdummung, die Ablehnung des Staates und – nicht zu vergessen – die Macht des Geldes, dass das alles zusammenhängt und die Sache sehr gefährlich macht.
FISCHER Bei allem, was Sie hier zu Recht anführen, Fritz, dürfen wir die positiven Seiten des amerikanischen Systems nicht außer Acht lassen. Die Margendifferenz zwischen links und rechts ist bei Wahlen relativ klein, weil beide Seiten in etwa gleich stark sind. Aufgrund des Wahlsystems kann das dazu führen, dass mal die eine und mal die andere Seite den Kongress dominiert. Es sind relativ wenige Staaten, die über die Präsidentschaftswahlen entscheiden; die Mehrzahl ist festgelegt, von vornherein eingebucht, aber letztendlich geht es um die Mitte. Das muss man sehen. Und diesen eingebauten Mechanismus in die Mitte, den finde ich doch sehr faszinierend. In Deutschland könnten wir uns diesen extremen Pendelschwung nie leisten, ohne dass Chaos und Schlimmeres ausbricht, niemals. Aber die USA können das.
STERN Dennoch, das Spektrum hat sich verschoben. Aufgrund dieser Verschiebung sieht man George W. Bush heute beinahe schon als einen liberalen Konservativen. Die republikanische Partei distanziert sich von Bush, der weiß Gott schlimm genug war. Wir schreiben jetzt Mai 2012. Wenn das Buch erscheint, wird möglicherweise ein neuer Präsident da sitzen. Im Augenblick, würde ich sagen, steht es 50:50. Wie es ausgehen wird, hängt zum Teil wirklich auch von euch ab, von euch in Europa.
FISCHER Fritz, mit diesem Appell können wir das Kapitel gern abschließen. Wir nehmen das sehr ernst. Ein Zusammenbruch des Euroraums würde eine Weltwirtschaftskrise lostreten, die Obama definitiv das Amt kosten würde. Wenn Europa in den nächsten Wochen in den Abgrund hüpft, dann war’s das mit Obama – von den trüben Aussichten für Europa ganz zu schweigen.
VIII Zwei letzte Fragen
STERN
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