Gegen Vaters Willen
ihm, beim Gedanken an sein einziges Kind, einfielen. Der Qualm seiner Zigarette, die im Aschenbecher lag, stieg langsam nach oben, während er sich vom Fenster abwandte und in seine Turnschuhe stieg. Er band sich ein schwarzes Tuch um den Hals, setzte sein Basecap auf und verließ sein Zimmer.
Es war ein Tag, wie jeder andere, und wenn er an den Morgen im Hause der Blakes zurückdachte, wo ihn niemand morgens um fünf aus dem Bett geholt hatte, stieg eine unbändige Wut in ihm auf. Es war nicht so, dass er prinzipiell faul war. Ganz sicher nicht! Würde ihm sein Vater freistellen, zu helfen, würde es ihm definitiv sogar Spaß machen. Doch es steckte immer der Zwang dahinter: Du musst! Und Ryan wusste nur zu gut, was passierte, wenn er sich widersetzte.
Erst vor einer Woche hatte er es gewagt, seinem Vater zu widersprechen und hatte umgehend dessen Hand in seinem Gesicht gespürt. Unweigerlich war ihm die Bemerkung von Leons Mutter durch den Kopf geschossen: Wie kann man nur sein Kind schlagen? Er wusste es nicht, doch solange sein Vater seine Mutter in Ruhe ließ, war es ihm beinahe gleichgültig. Schließlich kannte er es ja nicht anders. Früher war es ganz anders gewesen. Wenn sein Vater damals die Hand erhoben hatte, hatte sich Ryan danach immer in den Ställen versteckt, weil es dort dunkel war und er sich in der Dunkelheit sicher fühlte. Dort hatte er dann oft leise vor sich hingeweint. Heute tat er das nicht mehr. Er ertrug die Schläge ohne Tränen. Er hatte keine mehr, zumindest keine, die er für seinen Vater vergießen würde. Ryan hatte gelernt, sich anders abzureagieren. Er raste mit seinem Mountainbike steile Abhänge hinunter, spazierte gedankenversunken auf Bahngleisen herum und kletterte hoch in die Berge, ohne Seil, ohne Absicherung, ohne den rettenden Anker, den er schon in frühster Kindheit verloren hatte. Er verspürte Leben in sich, wenn er an den steilen Klippen stand und hinunterschaute. Oft kam es ihm so vor, als würde er in sein Leben hineinschauen und es fiel ihm niemand ein, der ihn auffangen könnte, wenn er abrutschen würde.
Mic und seine Mutter wären nicht dazu in der Lage. Sie waren beide starke Frauen, doch er wusste, dass sie ihn nicht würden halten können. Doch in der letzter Zeit war in diesen Momenten immer öfter das Bild eines Jungen vor seinem Auge aufgetaucht: Leon, der ihn bittend mit seinen so unglaublich dunkelblauen Augen ansah. War er derjenige, der ihn würde halten können? Er hatte sich vor einen Zug geworfen, hatte sein Leben in Gefahr gebracht, nur um Ryan zu retten. Leon! Es war seltsam. Wenn er an diesen, für ihn eigentlich fremden, Jungen dachte, stahl sich auch immer unbewusst ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht. Was hatte ihn dazu bewogen, sein Leben aufs Spiel zu setzen? Er hatte gesagt, dass es ein Reflex gewesen sei, und wahrscheinlich war es auch so, doch könnte er ihn halten, wenn es hart auf hart kam? Wenn er wirklich springen würde?
Ryan lächelte, schloss seine Zimmertür und stieg langsam die Stufen hinunter.
„Hi, Mum!”, sagte er leise, um seine Mutter nicht zu erschrecken, die am Herd stand und eine Lage Speck in der Pfanne wendete.
Mrs. McCoy drehte sich um und strahlte ihren Sohn an.
„Ryan. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!” Sie wischte sich die Hände an ihrer geblümten Schürze ab und umarmte ihn, so fest sie konnte.
Fast hätte Ryan seinen Geburtstag vergessen. Dass er daran nicht gedacht hatte, war eigentlich kein Wunder, denn nichts deutete auch nur annähernd darauf hin. Keine Torte, kein Ständchen und sein Vater erwartete natürlich trotzdem, dass er seine Arbeit verrichtete, wie an jedem anderen Tag auch. Er lächelte seine Mutter an und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Danke, Mum. Ich habe gar nicht mehr dran gedacht.”
„Dann kannst du froh sein, dass deine Mutter dran denkt”, lächelte sie. „Ich habe schon den Tisch gedeckt. Allerdings weiß ich nicht, wo dein Vater ist.”
„Legt jemand auf ihn wert? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der weiß, dass heute mein Geburtstag ist.” Ryan ließ sich auf einen der weißen Küchenstühle fallen.
Mrs. McCoy warf ihm einen mahnenden Blick zu. „Natürlich weiß er das!”
Ryan hob die Augenbrauen und lehnte sich zurück, als die Tür aufging und Jon McCoy sichtlich schlecht gelaunt die kleine Küche betrat.
„Na, hast du endlich ausgeschlafen?”, fragte dieser unwirsch.
Ryan schaute auf seine Armbanduhr und seufzte. „Es ist halb sechs.
Weitere Kostenlose Bücher