Gegenschatz
schweigend da und ich frage mich, was er nun anstellen wird, um mich herumzukriegen. Aber Marc unternimmt nicht den geringsten Annäherungsversuch in meine Richtung. Meine Schuhe beginnen zu drücken und ich streife sie von den Füßen. Den Boden des Autos bedeckt ein flauschiger Teppich, in dem ich meine Zehen vergrabe. Etwa zehn Minuten herrscht absolute Stille, bis ich wieder das Wort ergreife.
«Was halten eigentlich deine Eltern davon, wie du lebst?», frage ich.
«Wen interessiert schon, was Eltern denken! Ich bin erwachsen!»
Schon wieder fühle ich mich wie ein dummes Schulmädchen.
«Aber was machen sie denn so, deine Eltern?», frage ich vorsichtig. Schweigen!
«Wenn du es so genau wissen willst», beginnt er wütend, »mein Vater wurde zum Alkoholiker, nachdem er seine Arbeit verloren hatte. Er wurde aggressiv, schlug mich und meine Mutter. Eines Tages hat er sie so verprügelt, dass sie an den Verletzungen starb. Danach hat er sich zu Tode gesoffen und ich kam zu einer megaspießigen Pflegefamilie.»
Die Verbitterung in seiner Stimme schockiert mich. Mir verschlägt es komplett die Sprache.
«Jetzt bist du platt was! Für ein verwöhntes Akademikertöchterchen wie dich sind solche Verhältnisse doch nur Abschaum, richtig?»
Ich schlucke.
«Nein, nein, es tut mir leid!»
«Was?»
«Ich weiß nicht was ich sagen soll. Natürlich schockiert mich das. Aber niemand kann etwas für seine Eltern. Du nicht und ich auch nicht. Es kommt nur darauf an, was man aus dem macht, was man mitbekommt.»
«Aber du findest mich abartig, richtig? Hast du nicht gesagt ‘pubertär’, ‘schwanzgesteuert’ und ‘peinlich’?»
«Es tut mir leid! Ich hatte ein falsches Bild! Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass man sich so normal mit dir unterhalten kann. Du hattest einen schlechten Start ins Leben, aber du bist weder dumm noch primitiv.»
Marc lacht plötzlich auf.
«Soll ich das jetzt als Kompliment auffassen, Schnucki?»
«Nenn mich nicht ‘Schnucki’!»
«Also nicht ‘Süße’ und auch nicht ‘Schnucki’!», neckt er mich und ich kann mich nicht dagegen wehren, Wärme für ihn zu empfinden.
«Wie alt warst du, als …?», ich kann es nicht aussprechen, so grausam ist das, was er mir erzählt hat. Aber er versteht sofort, was ich meine.
«Acht!»
Ich sehe einen kleinen schwarzhaarigen Jungen vor mir, wie er weinend am Grab seiner Eltern steht und eine Welle der Zuneigung überflutet mich.
«Und warst du dabei, als …?» Ich bringe es einfach nicht über die Lippen.
«Alles geschah plötzlich wie in Zeitlupe. Ich habe alles gesehen: wie mein Vater meiner Mutter das Nudelholz über den Kopf gezogen hat, sie zu Boden gesunken ist, wie das Blut unter ihrem Kopf hervorquoll und über den Küchenboden floss, wie mein Vater mit weit aufgerissenen Augen zum Küchenschrank torkelte und einen Schnaps nach dem anderen herunter kippte, bis auch er umfiel und nicht mehr aufwachte. Ich habe nur dagestanden, konnte mich nicht rühren, ich weiß nicht wie lange, vielleicht mehrere Stunden, bis mich eine Nachbarin entdeckte. Sie hatte einen Schlüssel zu unserer Wohnung und ich weiß nicht, ob es so etwas wie einen siebten Sinn gibt, dass sie an diesem Tag zufällig nach dem Rechten sah. Wenn sie nicht gekommen wäre, stünde ich wahrscheinlich noch heute dort an dieser Stelle und starrte auf das Blut und den zertrümmerten Schädel meiner Mutter.»
Keine Worte können das ausdrücken, welche Gefühle sich in mir breit machen. Meine Miniprobleme erscheinen dagegen so nichtig und unwirklich wie eine Mücke in der Weite des Universums. Ich will Marc etwas von mir geben, etwas tröstendes, mitfühlendes, aber ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll und so bleibe ich einfach nur still sitzen. Wir hocken nun schweigend in der Stille. Das Gewitter hat sich verzogen und der Mond blinzelt zwischen den Wolken hindurch. Er scheint durchs Heckfenster und taucht das innere des Autos in bläuliches Licht. In mir wächst das Verlangen, Marc zu berühren, ihn zu streicheln, seine Hand zu halten. Ich möchte ihm Wärme geben und Nähe. Ich schaue ihn an und sehe, dass er sich in den Autositz zurücklehnt, den Blick starr nach vorne gerichtet. Ich spüre, dass seine Gedanken noch immer um die Bilder seiner Vergangenheit kreisen.
«Du warst traumatisiert!», sage ich leise.
Er nickt.
«Ich kam in ein Therapiezentrum und dann in eine Pflegefamilie.»
«Wie war die Pflegefamilie?»
«Spießig und kalt!»
«Du
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