Gegenschatz
nicht einmal ihre Adresse. Also entschließe ich mich zu einem Spontanbesuch meiner Eltern. Zunächst muss ich allerdings herausfinden, wo ich überhaupt gelandet bin, nach meiner ziellosen Irrfahrt. Ich frage an der Tankstelle nach dem richtigen Weg – da ich mit dem Auto selten weit weg fahre, habe ich kein Navigationsgerät an Bord. Eine Stunde später parke ich in der breiten Hauseinfahrt des Einfamilienhauses meiner Eltern. Wie immer ist die Hecke akkurat geschnitten und der englische Rasen kurz geschoren. Ich schließe mein Auto ab und klingele. Meine Mutter öffnet die Tür. Ich wundere mich nicht zum ersten mal, wie fit sie für ihr Alter immer noch aussieht. Graue Haare muss man suchen in ihren blonden Locken und die kleinen Falten um die Mundwinkel könnten auch als Lachfalten durchgehen. Eva, meine Mutter schließt mich sogleich freudig in die Arme.
«Kind, schön, dass du uns besuchst! Ich habe gerade Kuchen gebacken! Wie geht es dir?»
Miserabel, aber das will ich lieber nicht erzählen. Ich kann mir ihr geschocktes Gesicht lebhaft vorstellen, wenn ich ihr erkläre, dass ich mich in einen Sänger mit Tattoo auf dem Rücken verliebt habe und jetzt unter entsetzlichem Liebeskummer leide, weil die Groupies ihm zu nahe kommen und eine andere Frau auch noch schwanger von ihm ist. Aber noch lasse ich den Schmerz nicht an mich heran. Ich spiele die perfekte, glückliche Tochter.
«Gut! Auf der Arbeit läuft es prima!», lüge ich.
Nachdem ich mir die Schuhe ausgezogen und die Hände gewaschen habe, geleitet mich meine Mutter ins Wohnzimmer.
«Das freut mich, mein Schatz! Du weißt, wir waren immer sehr stolz auf dich!»
«Ja, Mama, ich weiß!», antworte ich mit leicht genervtem Unterton. Ich lasse mich aufs Sofa sinken.
«Und wie sieht’s mit Männern aus? Gibt es da inzwischen jemanden unter den Kollegen, der dir gefällt?»
Die Wendung des Gespräches passt mir absolut nicht.
«Nein, da ist niemand! Hab ich einen Durst!», versuche ich von Thema abzulenken.
Eva läuft in die Küche um Wasser, Kaffee und Kuchen ins Wohnzimmer zu bringen.
«Wo ist eigentlich Papa?», frage ich, als sie mit dem gefüllten Tablett wieder vor mir steht.
«Der steckt mit Johann auf dem Golfplatz! Aber die beiden müssten eigentlich gleich zurück sein!»
Ich trinke das Wasserglas ganz aus und nehme mir dann ein Stück von dem Apfelkuchen.
«Kannst du mir übrigens Tamaras Adresse geben, Mama?»
Erstaunt blickt mich Eva an.
«Was willst du noch von Tamara, nach allem, was sie dir angetan hat?»
«Wir haben uns versöhnt und schließlich war Nick ja auch nicht unschuldig an der Sache!»
«Kind, Kind! Ich gebe dir die Adresse, aber lese Tamara bitte ordentlich die Leviten zu ihrem Lebenswandel. Vielleicht hört sie auf dich mehr als auf uns!»
«Tamara hat ihren Weg gefunden und sie ist glücklich damit. Warum sollten wir das ändern?»
«Als Kosmetikerin!», sagt Eva abfällig, als handele es sich dabei um eine Kakerlake, vor der sie sich ekele.
Ich möchte Tamara verteidigen, doch ich fürchte, bei meiner Mutter damit auf wenig Verständnis zu treffen. Außerdem bahnt sich der Schmerz langsam wieder einen Weg in mein Bewusstsein. Da ich es kaum länger ertrage, die glückliche und erfolgreiche Tochter zu spielen, stehe ich auf.
«Mama, ich bin recht müde von der Fahrt. Ist es in Ordnung, wenn ich mich etwas hinlege?»
«Natürlich, mein Schatz! Du weißt ja, wo dein Zimmer ist.»
Ich beeile mich, in dem Gästezimmer zu verschwinden, das früher mal meines war. Statt Bravo-Postern hängt an den Wänden noch immer die Weltkarte, das chemische Periodensystem und eine Grafik der erdgeschichtlichen Entwicklung. Das für den Raum überdimensionierte Regal ist mit wissenschaftlichen Büchern zugepflastert. Das alles hier war mein Leben und doch kommt mir das Zimmer fremd und kalt vor. Ich schließe Tür und Vorhänge und lege mich samt Kleidung aufs Bett. Ich kann meinen Kummer keine Sekunde länger zurück halten und weine in mein Kopfkissen. Wie konnte ich mich nur in diesen schwanzgesteuerten Idioten verlieben? Ich wusste doch ganz genau, wie viele Frauen auf ihn abfahren und dass er Sexpartys zu Hause abhält. Mit einem mal kommt mir auch wieder das Telefonat in den Sinn, von dem ich nur Gesprächsfetzen mitbekommen habe. Da war offensichtlich eine Frau am Apparat, die Marc heiraten wollte. Ob er mit der hochschwangeren Frau gesprochen hat, die ich vor dem Proberaum gesehen habe? Damit ergäbe das alles
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