Gegenwinde
alles in- und auswendig, ich hatte meine Kindheit und Jugend hier verbracht, einige Allerheiligenfeste und ziemlich viele Sommer, aber ich ließ sie reden. Sie liebte die sanften Ufer der Rance und die Halbinsel Saint-Jacut-de-la-mer, bei Ebbe konnte man stundenlang über den mit winzigen weißen Muscheln übersäten Sand gehen, das Meer benetzte ihn nur eben und reichte einem nie höher als bis zum Schienbein, Algen und Felsen verliehen ihm unwahrscheinliche Farben, von Smaragdgrün über Türkis bis Aquamarinblau, Marineblau oder Flaschengrün. Ich war halb erfroren, als sie sagte, sie müsse jetzt gehen, sie arbeite im Krankenhaus und habe Nachtdienst, einen Augenblick schwankte ich, ob ich ihr erzählen sollte, dass auch Sarah Krankenschwester war, aber es hatte gar keinen Sinn, es war wie ein absurder alter Reflex, Überbleibsel eines anderen Lebens. Sie machte das Fenster zu, nicht ohne mich zu bitten, nur ja nie zu zögern, wenn ich etwas brauchte, ganz gleich, ob es darum ging, die Kinder zu hüten oder mit einem Päckchen Zucker, einem Laib Brot auszuhelfen, bei einem Glas Wein oder einer Zigarette ein wenig zu schwatzen. Ein paar Minuten später übertönte der Motor ihres Autos das Rauschen der steigenden Flut.
Die Sackgasse war menschenleer. Ich ging aufs Wasser zu, und es war, als würde ich in der Nacht versinken, um nie wiederzukehren. Alles roch nach Regen, Jod und gefrorener Erde. Sarah war bei mir, unsichtbar und nass, ich spürte ihre Anwesenheit, ihre Hand an meinem Hals, ihre eisigen Finger, die auf meinem Bauch spielten. Die Treppe führte ins Leere, der Wind fuhr durch die Kräuter, die sich an nichts festhielten. Ich näherte mich dem unsichtbaren, im schwarzen Himmel verlorenen Meer, mein Magen krampfte sich zusammen und meine Brust war wie in einen Schraubstock gezwängt. Es begann zu regnen, schwere Tropfen, wie Kugeln, ich ließ mich durchlöchern, durchbohren, ich ließ mich durch und durch waschen, bis Sarah verschwand, ihr Gesicht und ihr Körper, und die Spur, die ihre Abwesenheit hinterließ.
Als ich zurückkam, war das Licht an und Manon weinte. Ich stürzte in ihr Zimmer, aber ihr Bett war leer, sie hatte sich zu Clément geflüchtet. Er hatte seine Arme um sie geschlungen, wiegte sie und bedeckte sie mit Küssen, er tat, was er konnte, der Arme, das Leben verlangte schon zu lange allzu viel von ihm. Als treuer Bruder versuchte er, ihr beizustehen, aber angesichts der entfesselten Gewalten konnten wir selbst zu zweit nicht viel ausrichten.
»Sie hat einen Albtraum gehabt.«
»Das hab ich ja gesagt. Das sind auch deine verdammten Monster und dieses Zeug.«
»Nein. Das ist es nicht.«
»Was ist es dann?«
»Mama.«
Mehr wollte ich nicht wissen, da gab es nichts zu wissen, sie hatte immer diesen Traum, in dem ihre Mutter am Ende der Straße auf sie zu warten schien. Manon lief auf sie zu und kam näher, ohne sie je erreichen zu können, und irgendwann verschwand sie und alles wurde schwarz. Das hatte sie mir schon zigmal erzählt. Ich bedeutete Clément, er solle weiterschlafen, und nahm Manon auf den Arm. Ich zog mich aus, hängte meine Kleider zum Trocknen über die Heizung, und wir legten uns ins Bett, sie schmiegte sich an mich, nichts konnte uns trennen. Die Nacht umrauschte uns, zwang uns ihr Gezischel auf, der Regen prasselte auf die Scheiben wie Hände voll Kies, und der Wind ließ das Haus knarren. Wir schliefen mit nassen Haaren ein, meine nass vom Regen und ihre von den Tränen, die mir aus den Augen liefen wie aus einem Wasserhahn, ich konnte nichts machen, sie mussten fließen, es brachte nichts, dagegen anzukämpfen.
Um drei Uhr morgens schreckte ich hoch. Das Zimmer war eiskalt. Ich fasste an den Heizkörper, ich ging durchs ganze Haus, keiner funktionierte. Draußen jagten sich die Böen, warfen sich mit Wucht gegen die Wände, doch vergeblich, das Haus rührte sich nicht von der Stelle, nur das Holz und die Rohre ächzten. Ich holte zwei Steppbetten aus dem Schrank und deckte die Kinder zu, Clément schlief friedlich, sein Nacken trotz der Kälte feucht von Schweiß. Der Himmel vor dem Fenster war weiß, als wollte es schneien, das Zimmer war in ein schwaches, bleiches Licht getaucht. Ich küsste seine blasse, kalte Stirn, ich blieb einen Augenblick bei ihm und lauschte auf seinen Atem, betrachtete sein regloses schönes Gesicht, wünschte mir ganz fest, dass ihm nichts zustoßen möge, nie mehr, dass nichts ihn verletzen möge, dass er niemals sterben möge.
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