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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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der Wartenden, eine Erregung, jeden Tag zur selben Zeit klopften die Herzen demselben Wiedersehen entgegen. Manche Kinder rannten los, andere trödelten und schauten sonst wohin, völlig gleichgültig gegenüber denen, die auf sie warteten. Die letzten blieben in der Nachmittagsbetreuung und begannen mit Murmeln oder Fußball zu spielen. Er zuckte zusammen, als ich ihm die Hand auf die Schulter legte.
    »Na, immer noch da?«
    »Ja«, stammelte er. »Ich …«
    »Haben Sie ihn gesehen?«
    Er wurde blass. Den ganzen Nachmittag hatte ich an ihn gedacht, an die Stunden, die er damit verbrachte, auf die Schatten hinter den Gardinen zu lauern, auf die undeutlichen Bewegungen des Jungen im Ausschnitt des Fensterrahmens, wenn er von einem Zimmer ins andere ging, sich mit einem Spielzeug oder einem Glas Limonade in der Hand aufs Sofa fallen ließ. Stundenlang beobachtete er ihn von weitem, verborgen hinter Autos, mit blutendem Herzen.
    »Wahnsinn, wie groß er geworden ist …«
    »Haben Sie mit seiner Mutter gesprochen?«
    Er schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Er blickte mich seltsam an. Ich merkte, dass er versuchte, mich zu durchschauen, dass er zögerte, sich fragte, ob ich jemand war, dem man vertrauen konnte, ich selbst hatte keine Antwort auf diese Frage, im allgemeinen sagte man mir das Gegenteil nach, aus Gründen, die sich meiner Kenntnis entzogen, wohl aber ihre Berechtigung hatten. Manon stürzte in meine Arme, ihre Augen glänzten wie Quarz, allem Anschein nach hatte sie geweint. Ich zog es vor, nichts zu merken, sie hängte sich wortlos an meinen Hals, ein richtiges Äffchen, sie drückte mich, als hätte uns ein Ozean ganze Tage lang getrennt und uns ohne Nachricht von einander gelassen. Clément kam auch, ich fragte die beiden, ob sie sich an den Umzugsmann erinnerten, Manon würdigte mich keiner Antwort, und Clément begnügte sich mit einer knappen Kopfbewegung, er hatte es offenbar eilig, heimzukommen.
    »Gut. Ich muss jetzt wohl gehen«, sagte ich.
    Der Große nickte, ohne die Jungen aus den Augen zu lassen, schreiende, schmutzige Lausbuben, die Fußball spielten und einander vors Schienbein traten, ihre Schulranzen waren die Pfosten, und ein zerfetzter Tennisball diente als Fußball.
    »Ihrer, ist das der Torwart?«, fragte ich.
    Er bejahte, und ich hätte mein Hemd dafür verwettet, denn der Junge war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.
    »Er ist in meiner Klasse«, sagte Clément.
    Der Große reagierte nicht, er war so vertieft in den Anblick seines Sohns, er war wie hypnotisiert. Um uns herum strömten Gruppen von Kindern auf den Gehweg, Autos nahmen sie auf, und sie verschwanden für den Rest des Tages, man würde sie vor dem nächsten Morgen nicht mehr sehen, nicht einmal in den Straßen der Altstadt oder am Strand, es war, als würde man sie in ihr Zimmer oder in den Keller einsperren und zweimal abschließen.
    »Keine Dummheiten, nicht wahr?«, sagte ich, als wir gingen.
    Er zuckte mit den Schultern, für Dummheiten war es zu spät, sein Kollege hatte ein Problem auf der Straße gehabt, und der Chef hatte erfahren, dass er nicht mit ihm zurückgefahren war, er war gefeuert.
    »Eben … Man soll es nicht übertreiben …«
    Die Kinder kletterten ins Auto, Manon schrie vor Freude, als sie ihre Barbiepuppe auf dem Sitz fand, es war eine Prinzessin mit komplizierter Frisur, ihr weißes Kleid war überladen mit Schleifen, Schleiern und Spitzen. Clément nahm sein Videospiel in die Hand, drehte es ungläubig und stieß ein »Geil« aus, das alles sagte. Ich fuhr los, mein Herz schlug bis zum Hals, es hatte keinen Sinn, sie dauernd so mit Geschenken zu überschütten, aber ich konnte es mir nicht verkneifen, ihre Freude schickte Wellen des Wohlbehagens durch mein Hirn und mein Herz. Ich machte kehrt. Als ich wieder an der Schule vorbeifuhr, hielt der Umzugsmann seinen Sohn an der Hand, der Kleine hatte weder Jacke noch Schulranzen, und niemand schien sie zu beachten. Im Rückspiegel sah ich, wie sie in eine Parallelstraße einbogen. Bevor sie aus meinem Blickfeld verschwanden, holte der Große ein Schokocroissant aus seiner Tasche, und der Junge sah zu ihm auf, gespannt, strahlend.

Die Nacht hatte alles zugedeckt, die Kälte wurde klirrend, versprach einen Morgen mit Rauhreif, glattem, eisigem Meer, rosigem Sand. Holzbalken versperrten den Garten, im dunklen Gras lagen Seile und apfelgrüne Plastikteile. Ich winkte Manon, mir zu folgen.
    »Was ist das?«, fragte sie, und ihre Stimme war heiser vor

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