Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
Vom Netzwerk:
unseren Whisky, ohne etwas zu sagen, das Radio füllte die Stille aus, übernahm das für uns. Durchs Fenster sah ich mein Zimmer, das Licht war jetzt an, Clément saß an meinem Schreibtisch, reglos, er schien die Wand anzustarren, was mochte er da nur tun, woran mochte er denken, ich hätte viel drum gegeben, es zu erfahren. Wir waren beim dritten Glas, als der Sprecher Le petit bal perdu ankündigte.
    »Es wird dir total bescheuert vorkommen, aber … würdest du mit mir tanzen?«
    »Kein Problem«, sagte ich und stand auf, schwankte nur ein wenig, wie nach drei Gläsern starkem Alkohol, wenn man nichts gegessen hat. Gerade so viel wie nötig. Gerade genug, um mit einer Frau zu tanzen, die man kaum kennt, und sich von einem alten Chanson rühren zu lassen, das aus den Tiefen der Kindheit kommt oder aus noch viel früherer Zeit, aus der Ewigkeit oder so was.
    Sie stand ebenfalls auf, und unter der chinesischen Kugellampe, auf dem eiskalten Steinfußboden, tanzten wir mit halbgeschlossenen Augen. Nein, der Name des kleinen Tanzlokals fällt mir nicht mehr ein. Doch ich kann mich noch erinnern, dass sie sich glücklich in die Augen sahen. Und das war gut. Und das war gut . Wir drehten uns in dem tristen, leeren Zimmer, vom Sofa aus beobachtete uns ihr Hund, es war eine Art Yorkshire, der sie nie aus den Augen ließ, sie mit verliebtem Blick umfing. Sie nannte ihn Richard, und als ich sie fragte, warum Richard, antwortete sie, wegen Ferré, und das fand ich gut als Antwort. Ferré, das passte mir. Brautigan hätte mir genauso gepasst, aber Ferré war gut. Am Vortag hatte Élise mir sein Haus auf einer Insel gezeigt, es war nur bei Ebbe zu erreichen, bei klarem Wetter konnte man von dort aus Jersey sehen. Das Chanson war zu Ende, und sie verharrte noch einen Augenblick in meinen Armen, den Kopf auf meine Schulter gelegt, wir bewegten uns nicht mehr, unter meinen Händen spürte ich ihren mageren Körper. Schließlich hob sie das Gesicht, ihre Augen waren von einem kalten, transparenten Blau, ihre Lippen murmelten danke, und wir setzten uns wieder hinter unsere Gläser.
    »Alles gut?«, fragte ich sie.
    »Alles gut. Nur etwas müde. Ein langer Tag im Krankenhaus. Ich weiß nicht, seit ich in der Psychiatrie bin, kommen mir die Tage länger vor.«
    »Lass dich versetzen.«
    »Nein. Auf keinen Fall. Es gefällt mir. Ich meine, es interessiert mich. Manche, weißt du, die haben nur uns auf der Welt. Niemand kommt sie besuchen. Ein Typ ist seit vier Jahren da, er ist noch keine fünfundzwanzig, und seine Eltern sind nur zwei Mal gekommen, kannst du dir das vorstellen? Und dann gibt es auch Ältere, man weiß, dass sie ihre Tage da drin beschließen werden. Wir sind wie eine Familie für sie. Das hört sich blöd an, aber es ist die Wahrheit. Allein heute, zum Beispiel, da haben wir ein Mädchen aufgenommen, wenn du die gesehen hättest, sie kam von selbst, eine Schönheit, sie kann noch keine zwanzig sein, aber sie sah völlig verbraucht aus. Wir konnten nichts aus ihr herausbekommen, nicht einmal ihren Namen. Es ist schrecklich, das zu sehen, man könnte meinen, sie ist ausgehöhlt worden. Man hat sie auf ein Bett gelegt, da blieb sie den ganzen Tag mit offenen Augen, starrte an die Decke und stöhnte.«
    Ich ließ sie noch ein wenig reden und trank ein letztes Glas Whisky, sie war unermüdlich, ihr Job laugte sie aus, aber wenn sie draußen war, war sie immer noch drin, siekam nie richtig davon los, schleppte ihren Tross von Deklassierten Psychotikern Magersüchtigen Schizophrenen und Selbstmordkandidaten hinter sich her. Wie alle im Krankenhaus tat sie, was sie konnte, um sie wieder auf die Beine zu bringen, aber wenn sie schließlich entlassen wurden, war es immer zu früh, sie hatte das Gefühl, sie zu verlieren, und machte sich jedes Mal Sorgen um sie: Sie schienen ihr zu zerbrechlich, um es mit der Außenwelt aufzunehmen. Die anderen, die galt es vor allem zu beruhigen, meistens hatten sie diesen verschreckten Blick, den nichts wirklich beschwichtigen konnte. Ich kannte das alles irgendwie, ich war mehrmals zu Lesungen da drin gewesen, es ging stets sehr ruhig und zugleich nervös, sehr sanft und sehr heftig zu. Ich trank aus und entschuldigte mich, mein Bruder erwarte uns zum Abendessen. Ich warf einen Blick auf mein Zimmer, Clément war verschwunden, das Fenster war nur noch ein schwarzes Rechteck.
    Als ich heimkam, war Manon mit Farbe bekleckert, ihr Bruder war bei ihr und auch nicht viel sauberer. Ich brauchte

Weitere Kostenlose Bücher