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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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Müdigkeit, angegriffen von den Glassplittern, mit denen die Luft ringsum durchsetzt zu sein schien.
    »Deine Rutsche und deine Schaukel.«
    Die Erde unter unseren Socken fühlte sich an wie Zement. Manon schlich sich an, als könnte alles davonfliegen. Mit den Fingerspitzen berührte sie das fast weiße Holz, die feuchte Oberfläche der Rutsche, den Sitz der Schaukel. Es war, als streichelte sie die Teile, als wollte sie sich ihrer Realität versichern.
    »Ich möchte schaukeln«, hauchte sie.
    »Warte … Ich muss sie erst aufstellen, weißt du.«
    »Wann machst du das denn?«
    »Ich weiß nicht, morgen.«
    »Nein, jetzt.«
    Sie ging wieder hinein, um ihren Film anzuschauen, an ihrem Gesicht konnte ich sehen, dass sie nicht spaßte. Ich blieb draußen, durchgefroren bis auf die Knochen, in dieser Jahreszeit hing alles von der Sonne ab, ging sie unter oder verschwand hinter einer Wolke, war sofort tiefer Winter. Ich untersuchte jedes Teil, öffnete den Plastikbeutel voller Metallstreben, Schrauben und Bolzen. Ich warf einen Blick auf die Montageanleitung in fünf Schritten, die ebenso unverständlich und nutzlos war wie jede Montageanleitung in fünf Schritten. Dann ging ich ans Ende der Straße eine Zigarette rauchen. Das Meer rauschte sanft, für die Augen war es nur eine Folge von mehr oder weniger lichtem, mehr oder weniger undurchdringlichem, mehr oder weniger beweglichem Schwarz. In den Häusern an der Steilküste gingen nach und nach die Lichter an, manche machten nicht mit, wirkten kompakt und verlassen, man konnte sich vorstellen, eine Scheibe einzuschlagen, eine Klinke herunterzudrücken und von ihnen Besitz zu ergreifen, vor Ostern würde einen niemand stören. Man könnte von Zimmer zu Zimmer irren, ein Feuer anzünden, seinen Namen auf den Briefkasten kleben und da leben wie ein Schatten. Eine meiner Schülerinnen wohnte im größten Haus, seine verspielten Formen, das Türmchen und die gotischen Giebel gaben ihm den Anstrich eines englischen Herrenhauses. Élise war siebzig, und ihr Mann war gerade gestorben, sie war seit ewigen Zeiten nicht mehr gefahren, es war hier nie nötig gewesen, eine Privattreppe führte sie zu ihrem Strand, und einkaufen ging sie jeden Morgen zu Fuß, zum Metzger oder Krämer an der Ecke, ansonsten hatte ihr Mann sie gefahren, aber jetzt, wo ihr »Chauffeur nicht mehr da« war, hatte sie keine andere Wahl. Am Ende der Stunde hatte ich sie zu Hause abgesetzt, und sie hatte mir einen Kaffee angeboten. Das Wohnzimmer öffnete sich in den Himmel, überragte das unendliche Meer, hier hatte sie in einer Ecke ihr Bett aufgeschlagen, im oberen Stockwerk warteten vier Zimmer auf niemanden mehr, die Kinder waren eins nach dem anderen ausgezogen, groß geworden, ohne dass man es merkte, verschwunden, bevor man auch nur begriffen hatte, dass sie wuchsen und sich unwiderruflich entfernten.
    Ich ging zurück, die Nachbarin parkte gerade ein, und für ein paar Sekunden erfasste mich der Lichtkegel ihrer Scheinwerfer. Sie lächelte mir beim Aussteigen zu, ihr Blick drückte Wohlwollen aus, eine Art abgenutzte, weil großzügig und selbstlos aller Welt entgegengebrachte Zärtlichkeit. Ich kannte diesen Blick gut, Sarahs Kolleginnen im Krankenhaus hatten ihn auch. Ich fragte sie, ob sie zufällig eine Bohrmaschine hätte, ich bräuchte sicher eine für die Schaukel. Sie winkte mir, ihr zu folgen. Das Haus war winzig und unordentlich, das Wohnzimmer roch nach Salbei, und durchs Fenster konnte man mein Zimmer ahnen, das große Bob-Dylan-Poster, die einzige Dekoration, und den nutzlosen Schreibtisch. Seit Monaten, fast Jahren, hatte ich mich nicht daran gesetzt, ich hatte dort nichts mehr zu tun, Schreiben kam mir, ehrlich gesagt, gar nicht mehr in den Sinn, und die seltenen Male, die ich es doch versucht hatte, war mir alles so sinnlos erschienen, dass ich mich sogar fragte, ob ich den Computer behalten sollte, er war unter einem Stapel Decken im Schrank versteckt. Sie führte mich zur Abstellkammer. Hinter einer Tür, von der die Farbe abblätterte, verstaubten Werkzeuge. Ich stöberte eine Weile zwischen Schleifmaschinen, Schaufeln, Kellen, Hacken, Schraubenschlüsseln, Beißzangen, Holzhämmern, Schraubenziehern, Bolzen, Rechen und Spaten, wozu konnte all das dienen in so einer kleinen Hütte? Als ich mich wieder aufrichtete, die Bohrmaschine in der Hand, ein altes, flaschengrünes Bosch-Gerät, stand sie hinter mir und reichte mir ein Glas. Wir kehrten ins Wohnzimmer zurück und tranken

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