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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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keine Erklärung. Der Wohnzimmertisch war mit einem Haufen Blätter und tropfenden Pinseln bedeckt. Rätselhafte Gemälde lagen zum Trocknen übereinander, sie zeigte mir eins nach dem andern, es waren obskure Schatzkarten, unförmige Monster und kunstvoll zerklüftete Gebirge. Auf Manons Bitten hin hatte Clément versucht, ein Häschen zu malen, aber es glich eher einer bunten Maus. Ich ging mit ihnen ins Bad und säuberte sie mit einem Waschlappen. Manon schrie, weil es ihr in den Augen brannte. Ich sagte ihnen, sie sollten sich umziehen, und wir machten uns auf den Weg.
    Das Haus lag am anderen Ende der Stadt, und die Wohnzimmerfenster gingen auf den Hafen hinaus. Wenn man sie öffnete, hörte man die Wanten klirren und den Wind in den Masten pfeifen, es brauste wie in einem Tannenwald. Drinnen hätte man glauben können, bei meinen Eltern zu sein, Alex hatte bei ihrem Tod alles zu sich geholt und lebte inmitten betagter, altmodischer Möbel. Im Grunde passte der Rahmen zu ihm, er hatte immer älter ausgesehen, als er war, und schon mit fünfundzwanzig Jahren seinen Frieden gemacht, sich tapfer dem Alltag, dem profanen Leben und den Verpflichtungen untergeordnet und die Rolle des gesetzten, vernünftigen und diskreten Mannes übernommen, die mein Vater lange innegehabt hatte. Er servierte mir den Whisky, noch bevor ich Zeit gehabt hatte, meine Jacke abzulegen, Manon hing mir auch noch am Hals. Nadine kam herein, ein dünnes Lächeln auf den Lippen, sie trug ihr Haar offen und hatte sich leicht geschminkt, Clément stürzte sich in ihre Arme, und sie hielten sich lange umschlungen. Sie waren sich nie besonders nah gewesen, aber er brauchte das wohl, sich in die Arme einer Frau zu kuscheln, die er schon immer kannte und die seine Mutter hätte sein können. So dachte ich damals. Ich küsste sie dann auch auf die Wangen, und sie roch gut nach Zimt und Jasmin. Wir setzten uns zu Tisch, zwei Liter Cola, Pommes mit Ketchup und turmhohe Hamburger warteten auf die Kinder. Sie begannen, all das zu verdrücken, als hätten sie drei Tage nichts zu essen bekommen, und man hörte nichts mehr von ihnen. Währenddessen verschlangen Alex, Nadine und ich astronomische Mengen von Austern mit Zitrone und schälten Dutzende Scampi, deren Beine wir unter schrecklichem Geschlürfe aussaugten. Alles kam ganz frisch aus dem Meer, man hatte das Gefühl, mit dem Kopf ins Wasser einzutauchen. Ein Glas Mayonnaise und drei Flaschen Mâcon Village mussten dran glauben. Ich beobachtete Nadine aus dem Augenwinkel, der Alkohol machte sie immer sentimental und traurig, mit allem, was ihr auf der Seele lag, mit überfließender, auswegloser Zärtlichkeit sah sie den Kindern zu. Alex und sie konnten keine bekommen, ich wusste nicht, warum und hatte nie versucht es herauszufinden, Nadine sagte immer, mit Alex kann ich keine bekommen, und das genügte, um die Diskussion zu beenden und ihr die Tränen in die Augen zu treiben. Manchmal reichte ein Blick auf die beiden, um den Graben zu sehen, der sich dadurch zwischen ihnen aufgetan hatte, ein verdammter Riss des Schweigens und der Missverständnisse, der allmählich breiter wurde. Ich glaube nicht, dass sie es einander vorwarfen, nein, ich glaube nicht, dass es schon so weit war, ich glaube nur, dass sie es kommen sahen und dass es sie zermürbte: die Traurigkeit eines Lebens ohne Kinder. Die Leere, die das früher oder später in einem selbst oder um einen herum erzeugt, ob man will oder nicht.
    Nach dem Essen kuschelte sich Nadine zwischen die Kinder auf das große Sofa. Es war rührend und herzzerreißend, die drei so zu sehen, Alex wählte zwei Zigarren aus seiner schimmernden Kiste, einem Ding aus Mahagoni, das ich ihm vor Jahren geschenkt hatte, und wir traten hinaus in die sonderbar milde Nacht. Der Wind hatte sich gelegt, und die Luft war beinahe frühlingshaft. Wir trugen unsere Mäntel weit offen, zwischen den vertäuten Segelbooten glänzte das Meer. Im leichten Seegang schaukelten sie ganz sanft, nur für uns. Weiter weg säumte ein hübscher Halbmond aus Sand den Hafen. Ärmliche Häuser mit rissigem orangefarbenem und blauem Putz reihten sich in wechselnder Höhe aneinander. Aus der Nachtbar drang Lachen, Musik, das dumpfe Klacken der aneinanderstoßenden Billardkugeln. Man erreichte sie über eine von Tauen gehaltene Treppe, die man nach der Sperrstunde wieder hinaufstieg wie das Fallreep eines Schiffs. Als wir am Rand der Promenade mit baumelnden Beinen zwei Meter über dem Sand saßen,

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