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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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holten wir unsere Havannas hervor. Die Musik hinter uns wurde lauter, und ein Mädchen brach in irres Gelächter aus. Alex und ich schauten uns an, Jahre kamen uns wieder ins Gedächtnis, Nächte, in denen wir uns auf dem großen Ledersofa fläzten, abwechselnd eine Runde Bier tranken und eine Runde Billard spielten, und es endete immer damit, dass wir im Morgengrauen an irgendeine Wand kotzten oder mit einer Tüte Schokocroissants in der Hand auf der anderen Seite des Stauwehrs auf den Sonnenaufgang warteten, an einem idyllischen Strand gegenüber den Inselchen, die nach und nach aus der Dunkelheit auftauchten. Sie waren Studentinnen in Rennes oder Paris, verbrachten das Wochenende oder die Ferien hier, wir küssten uns unter dem rosagefärbten Himmel, das Feuer knisterte im Sand, wir vögelten in den Dünen, sie fuhren wieder ab, ohne sich auch nur an unseren Namen zu erinnern, vergaßen unser Gesicht und unsere Hände, unsere Zunge und unser Geschlecht, manche schrieben uns ein paar Briefe, andere hießen Nadine und fuhren nicht wieder weg, oder Sarah und nahmen uns mit nach Paris, in ein winziges Zimmer, dessen einziges Fenster auf eine graue, schartige Mauer hinausging.
    Ich hob den Blick, der Himmel war voller Sterne, wie im Sommer.
    »Hast du was gehört?«
    Alex biss die Spitze der Cohiba ab und zündete sie an, indem er sie drehte. Ich tat es ihm nach und nahm den ersten Zug.
    »Nein. Oder doch, er hat angerufen wie jeden Monat, aber es gibt nichts Neues. Auf jeden Fall suchen sie schon lange nicht mehr.
    »Verdammt. Wie hat sie euch das antun können …«
    Ich sah ihn an, soweit ich mich erinnerte, war es das erste Mal, dass er sich so offen, so direkt über die Geschichte äußerte. Sarah war seit ihrem Verschwinden für alle ein Tabuthema, und die Gründe, die Umstände dieses Verschwindens waren verbotenes Gelände. Wenn wir uns sahen oder miteinander telefonierten, beschränkten sich Alex und Nadine darauf, sich nach den Kindern zu erkundigen und danach, wie ich mit ihnen zurechtkam, wie ich den Alltag bewältigte, wie ich mit Manons Krisen umging und mit Cléments zunehmender Verschlossenheit, seiner Stummheit und Reaktionslosigkeit. Alex ermahnte mich, die Arbeit wieder aufzunehmen, die Medikamente abzusetzen, er redete mit mir wie mit einem Kind, in diesem Ton des großen Bruders, der mich nervte, er fand, ich übertriebe, ich sollte mich wieder fangen, ich hätte ein Haus zu bezahlen, Kinder zu ernähren, wenn ich so weitermachte, würden wir auf der Straße landen, und ich sollte mich nicht darauf verlassen, dass er mir wieder einmal aus der Patsche helfen würde. In diesem letzten Punkt hatte er unrecht gehabt.
    Als Sarah verschwunden war, hatte das im Grunde niemanden gewundert. Niemanden außer mir. Alle schienen ihr Weggehen als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten, eine unvermeidliche und vorhersehbare Entwicklung. Ihre Arbeit, mein unmöglicher Charakter und die Mengen an Alkohol, die ich mir hinter die Binde kippte, meine Wutausbrüche, meine unwahrscheinliche Fähigkeit, mich mit der halben Welt zu zoffen und beim Rest verhasst zu machen, alles schien dazu beizutragen. Nur eine Frage blieb offen: Warum hatte sie die Kinder nicht mitgenommen und wie lange würde es dauern, bis sie zurückkam, um sie zu holen? Doch die Tage waren verstrichen, aus den Tagen waren Wochen und Monate geworden, aber Sarah war nicht zurückgekommen, und niemand wagte mehr, von ihrer Rückkehr zu sprechen. Nunmehr begnügte man sich damit, mich von der Seite anzusehen und sich zu fragen, wie es so weit hatte kommen können.
    »Was würdest du tun, wenn sie zurückkommt?«
    Alex zog mit kleinen Schmatzgeräuschen an seiner Zigarre, ein Baby, das an der Brust saugt, hätte man meinen können. Er stieß lange Rauchwolken aus, die sich zwischen den Segeln auflösten.
    »Ich würde sie mit offenen Armen empfangen.«
    »Bist du sicher?«
    Ich war sicher. Eigentlich wartete ich nur darauf, dass sie wiederkam. Und wir da weitermachten, wo wir aufgehört hatten. Sie brauchte nur zu erscheinen, und ich würde ihr die Tür weit aufmachen, ich würde ihre Hand nehmen ohne eine Wort, ohne den kleinsten Vorwurf. Ich würde ihr keine Frage stellen. Aber etwas sagte mir, dass das nicht geschehen würde. Sie würde nicht wiederkommen, weil sie nicht weggegangen war. Das war unmöglich. Sie konnte uns nicht verlassen haben, weder die Kinder noch mich. Ich wusste es besser als jeder andere.
    Das hatte ich dem Inspektor zu

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