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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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sie ganz nackt war, ich konnte sagen, was ich wollte, sie lehnte Schlafanzüge ab und bestand, sommers wie winters, auf diesem Nachthemd, der Stoff war so dünn wie ein Taschentuch. Ich trug sie zum Bett und legte mich dann zwischen die beiden. Sie knurrte und schmiegte sich an mich. Clément legte seinen Kopf auf meinen Arm, den er um sich schlang wie einen Schal. Nach wenigen Sekunden war er eingeschlummert. Manon schnarchte. So lag ich die ganze Nacht zwischen den Kindern, mit offenen Augen im Dunkeln. Cléments Worte gingen mir nicht aus dem Sinn, die Gewissheit, mit der er sie ausgesprochen hatte, ich selbst hatte diese Gewissheit nie wirklich gehabt, hatte sie gar nicht haben wollen. Ernsthaft zu denken, Sarah könnte tot sein, war für mich einfach unerträglich, tagsüber versuchte ich mich zu beherrschen, doch die Träume hauten mich um, im Traum durchdachte ich alle Möglichkeiten, prüfte sämtliche Hypothesen, und da sie uns nicht verlassen haben und nicht verunglückt sein konnte (man hätte sie gefunden, nach einer Weile hätte man sie doch gefunden), waren sie an einer Hand abzuzählen: Entführung, gewaltsamer Tod, in der Ungeschütztheit der Nacht sah ich nichts, an was ich mich klammern konnte, kalter Schweiß rann mir über den Rücken, während auf dem Bildschirm meiner geschlossenen Lider Strangulierungen, Vergewaltigung, feuchte, dunkle Keller, Wunden, Messer, blaue Flecken vorüberzogen, jedes Mal erschien mir Sarahs Gesicht in panischer Angst, vom Schmerz entstellt, ich stand auf, um mich zu übergeben, alles kam mir hoch, danach stellte ich mich unter die Dusche, ging ins Wohnzimmer hinunter, trank literweise Kaffee und betete, nie mehr einzuschlafen.

Ich bemerkte sofort das Polizeiauto vor der Schule. Die Eltern gruppierten sich am Zaun und umringten die Direktorin, eine hagere Frau mit kurzem Haar und ungewöhnlich tiefer Stimme. Clément ging in Richtung Klassenzimmer, schlaftrunken gähnte er mit weit aufgerissenem Mund. Es war noch nicht richtig Tag, und ich fragte mich, während ich ihm nachschaute, warum man den Kindern so etwas zumutete. Manon drückte meine Hand, als fürchtete sie irgendeine Gefahr, sie hatte nicht unrecht, alle Blicke waren auf uns gerichtet, und die Direktorin wies einen Typen mit einer Kinnbewegung auf uns hin, schwarze Lederjacke, etwas beleibt, schnurrbärtig, kahlköpfig. Er nickte und kam auf mich zu, sein Gesicht war von der Kälte gerötet, und ein Fleck, der nach Kaffee aussah, bildete einen kleinen Rugbyball auf seinem Hemd. Er reichte mir seine fleischige Hand, bevor er sich vorstellte: Inspektor José Combe, er habe mir einige Fragen zu stellen.
    »Worum geht es?«, erkundigte ich mich.
    »Das Verschwinden.«
    Das Blut wich mir aus dem Gesicht, ich muss leichenblass gewesen sein. Ich suchte etwas, an das ich mich klammern konnte, ich fand nur Manon, so lange schon hielten sie und ihr Bruder mich jetzt aufrecht. Warum kam Combe in die Schule, um mit mir über Sarah zu sprechen? Er zog ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn, wie er bei solchem Wetter schwitzen konnte, war ein Rätsel, der Himmel war stahlblau, und der Rauhreif auf den Windschutzscheiben der Autos noch nicht geschmolzen.
    »Das Verschwinden des Jungen«, erklärte er. »Der kleine Thomas Lacroix ist gestern um sechzehn Uhr dreißig verschwunden. Sie haben Ihre Tochter gestern um sechzehn Uhr dreißig abgeholt, nicht wahr?«
    Ich nickte, und mit einem Schlag entspannten sich alle meine Nerven, das Blut in meinen Adern begann wieder zu zirkulieren. Ich wusste, worauf er hinauswollte, aber ich war erleichtert, der Umzugsmann musste seinen Sohn mitgenommen haben, das war vorhersehbar, unvermeidlich, er würde sich nicht damit begnügen, auf einer Bank mit ihm zu plaudern und zuzuschauen, wie er sein Schokocroissant zerkrümelte.
    »Haben Sie vielleicht etwas bemerkt?«
    »Nein.«
    »Haben Sie nicht einen Jungen allein aus der Schule kommen sehen?«
    »Nein. Warum, haben Sie keinen Anhaltspunkt, wo er sein könnte?«
    »Nein. Bisher nicht. Das letzte Mal hat man ihn auf dem Schulhof gesehen, er sollte ins Klassenzimmer zurück, zur Nachmittagsbetreuung, seine Mutter sollte ihn um achtzehn Uhr abholen, aber da war er verschwunden …«
    Ich schaute betreten, so erschrocken wie möglich. Manon sah mich unruhig an, es war nicht gut für sie, solche Dinge zu hören. Ich verabschiedete mich vom Inspektor, er wollte trotzdem meine Telefonnummer und meine Adresse notieren, für alle

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