Gegenwinde
ich eigentlich auch nicht, aber nun würden wir uns nicht mehr im Kreis drehen und mit offenem Mund und zum Himmel gerichtetem Blick ziellos umherirren, auf der Suche nach Antworten. Ein neuer Abschnitt würde beginnen: Wir würden versuchen, mit der offenen Wunde zu leben, so unvorstellbar es auch war. Ja. So sah ich die Dinge in diesem Augenblick. Doch die Wahrheit war viel einfacher und brutaler. Ich hatte es noch nicht begriffen. Zwar hatte ich ihre Kleider gesehen, aber ich hatte es noch nicht begriffen. Ich wusste, was passiert war, aber all das blieb abstrakt und unwirklich. Ich hatte eben doch noch nichts gesehen.
Nadine hatte einen Dreikönigskuchen gebacken, vierzehn Tage zu früh, Manon versteckte sich unter dem Tisch und verlangte, dass er in sechs Stücke geschnitten wurde. Kurz dachte ich, sie wollte eines für ihre Mutter reservieren, und der Gedanke bestürzte mich, aber das war es nicht, als die Kuchenstücke verteilt wurden, nannte sie zweimal Nadines Namen, sie meinte, Nadine müsste jetzt für zwei essen, von allem müsste immer ein Teil dem Baby zukommen. Manon tauchte wieder auf und fand das Figürchen in ihrem Stück. Ich wurde ihr König und verbrachte den Rest der Nacht mit meiner Krone auf dem Kopf.
Nach dem Essen gingen die Kleinen nach oben, und ich ermahnte sie, die Lichter auszumachen, der Weihnachtsmann käme nur, wenn sie tief und fest schliefen. Manon und Clément spielten das Spiel erstaunlich überzeugend: Sie redeten nur noch leise und spähten durch den Vorhangschlitz, ob nicht ein verschneiter Schlitten oder ein Rentier zu sehen wäre. Alex und ich legten die Geschenke unter die Tanne, auf dem Tisch hatten die Kinder heißen Kakao für den alten Santa Claus und zwei Möhren für seine Tiere bereitgestellt. Nadine ließ beides verschwinden, und ich läutete an der Tür. Alex fragte mich mit dröhnender Stimme, ob die Kinder brav gewesen wären und ob sie schliefen. Ich antwortete, ja, und lud ihn ein, sich auszuruhen. Er wolle gern etwas Warmes trinken, habe aber nicht viel Zeit, er müsse noch viele Kinder besuchen. Ich schloss die Tür wieder, und die Kinder stürzten ins Wohnzimmer. Das Ritual war unveränderlich und ging auf unsere Kindheit zurück, Papa verstellte die Stimme und sprach als Weihnachtsmann mit unserem Onkel, während wir oben in unserem dunklen Zimmer, unter den Decken versteckt, vor Lachen platzten. Auch Manon und Clément waren mit Geschenken beladen, Manon hatte jede Menge Bilder gemalt und für Nadine Ketten aufgefädelt, Clément hatte seine Sparbüchse geplündert, um für uns Kerzen, Räucherstäbchen und ein kleines Armband zu kaufen. Ich fragte mich, wo und wann er das alles besorgt hatte, es uns zu schenken, schien ihn genauso glücklich zu machen wie seine eigenen Päckchen zu öffnen. Am Schluss war der ganze Teppich übersät von Spielsachen DVDs Videospielen und zerrissenem Geschenkpapier. Unter dem Baum standen nur noch unsere Schuhe, und etwas abseits lagen noch ein Bild und eine von Manon gebastelte Kette. Ich schaute mich nach ihr um, sie frisierte ihre Dornröschen-Barbie.
»Für wen ist das hier?«
»Für Mama. Wenn sie wiederkommt.«
Sie sagte das so natürlich, es schien für sie so selbstverständlich zu sein, ich küsste sie aufs Haar und ging hinaus, es zerriss mir das Herz. Draußen war die Nacht nicht kälter als der Tag, so dass mir die Luft fast milder vorkam. Ich ging ein paar Schritte auf der Promenade, es war Hochwasser, vom Jachthafen aus konnte man nicht sagen, wie das Meer beschaffen war, es konnte weiter draußen toben und hier ganz ruhig sein. Ich setzte mich auf die Stufen und steckte mir eine Zigarette an. Der Pub war geschlossen, außer mir war niemand draußen, überall brachte man die Kinder zu Bett oder ging zum Schnaps über. Alex kam mit zwei Zigarren, legte mir die Hand auf die Schulter und zog mich an sich. Dann zündete er seine Havanna an, und der erste Zug schien ihn mit unbeschreiblichem Glück zu erfüllen. Ich sah ihm zu, einen Moment lang fragte ich mich, was für ein Spiel er wohl spielte, ob ihm klar war, dass die Chancen, dass das Kind von ihm war, eins zu tausend standen, aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Ich weiß, was du denkst …«, fing er an.
Ich drehte meine Zigarre sorgfältig, während ich sie anzündete. Ein Geruch nach Holz, Erde, Karamell und Lakritz stieg in die Luft.
»Ich bin ja nicht doof«, fuhr er fort. »Seit fünf Jahren haben wir alle Untersuchungen der Welt
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