Geh auf Magenta - Roman
die sie heute schon geraucht hatte. Sie blickte auf den Bildschirm:
Eine Riesen-Schleuderbahn für tote Seelen. Diese Seelen müssen genau sechsmal durcheinandergeschleudert werden, sonst stimmt die Konsistenz nicht. Erst wenn’s so ein richtiger Seelenbrei geworden ist, ist es fertig.
Dieser Typ hatte ein Problem, ganz klar. Aber sie erinnerte sich an ihre Aufregung bei jedem seiner Sätze, an die Spannung, was als Nächstes kommen würde. Sie fragte sich, wie er wohl aussehen würde, wahrscheinlich war er einer, der keine Freunde hatte und sich deshalb all dieses Zeugs vorstellte. Sie rieb sich wieder die Schläfen, dann ihre Handknöchel. Seit diesem Schlag in das Gesicht ihres Vaters schmerzten sie ständig, er musste immer das letzte Wort haben, das passte zu ihm. Sie ergänzte ihren Text:
Ordnung machen. Ich bin mit dem Zug gefahren, 700 Kilometer, und jetzt bin ich hier. Alles hier ist sinnlos, ich habe hier nichts zu tun, ein guter Zustand – eigentlich. Ordnung machen, das ist gut. Gott weiß, wie man das macht. 001-21200010, Gottes Nummer in New York. Ich rufe ihn an und frage, wie man Ordnung macht, ich frage ihn, was mit mir passiert ist, er wird es wissen. Gott hat eine Penthouse-Suite an der Fifth Avenue und einen graumelierten Butler, der ihm jedes Mal das Telefon bringt, wenn ich ihn anrufe. Sorgsam putzt er sich mit einer Serviette dann immer den Frühstücksmund, bevor er spricht. Das ist immer das Gleiche, wir haben einen guten Draht zueinander. Nach diesen Telefonaten ging es mir einfach immer besser, Gott ist ein guter Mann. Es dauert lange, bis er diesmal den Hörer abnimmt, ebenso, bis eine Antwort kommt: »It’s not me«, er hat heute wohl nur keine Lust. »Who are you?«, als ob er das nicht genau wüsste – ich beschimpfe ihn als einen arroganten Heuchler, im besten Potato-Englisch, er legt auf.
Es sind schöne Fotos, Paps war im Fotografieren nie schlecht, auch die Farben sind angenehm. Ich umgreife seine Schultern, es ist alles Glück, wir sind in Glückland, Teil 1. Hinter uns der Pazifik mit einer Insel und einem Leuchtturm, the Oregon coast line. Mehr nach links, nach rechts, gut so, ja so. So ein Foto ist aufregend, meine kleine Hand greift in seine, er wird es mir später tausendmal sagen, das mit der Insel, mit dem Leuchtturm, mit dem Meer. Glück, Teil 2, Teil 3, Teil 4; dann sind da Paps Bilder aus New York, Gott und ich, an der Fifth Avenue, wir umarmen uns herzlich; dann noch ein Bild, an einem Teich, die Karpfen hängen mit dem Kopf nach unten an einem Holzgerüst. Sie zappeln, während man sie der Länge nach aufschneidet. Ihre Augen erstarren in Unglauben, sie nehmen den Bruch ihres Bewusstseins wahr, ihr Entsetzen ist ohne Worte. Der Boden unter ihnen nimmt ihr Blut und ihre Eingeweide auf und vermengt es mit Schlamm und klumpiger Erde. Erdfische sind sie jetzt. Paps hat mir die Augen zugehalten und mir dabei an die kleinen Brüste gefasst. Es war irgendwo auch da, in Glückland. – Ordnung, ich brauche Ordnung.
Sie sah wieder hinaus. Eine Nachricht von diesem Bruder wäre jetzt wirklich schön.
*
Kirsten stand an der Glasfront ihres Büros und blickte auf den Firmenparkplatz hinab; der Vertriebschef parkte seinen Jaguar, öffnete die Fahrertür und stieg betont locker aus, er musste ja damit rechnen, dass man ihm von oben zusah. Sie hatte einmal ein Verhältnis mit ihm gehabt, ein halbes Jahr lang. Eigentlich war er ganz nett, hatte stets gute Laune und einen gewissen Humor. Allerdings natürlich auch eine Frau und zwei Kinder, eben der Prototyp ihres Durchschnittsliebhabers.
An einem solch normalen Tag wie heute wäre eigentlich alles machbar, zum Beispiel könnte sie ihr Schild vor der Tür von Marketing in Liebhaberin ändern, oder besser noch in Mätresse , dann hätte alles seine bezifferte Ordnung und das Versteckspiel ein würdiges Ende. Sie würde nur noch in Ehrlichkeiten leben und so etwas wie lügen, heucheln und herumdrucksen wäre ganz einfach verboten. Vielleicht musste sie wirklich etwas in ihrem Leben ändern, wenn sie nicht als ausgepresste Zitrone weggelegt werden wollte. Aber auch das waren Gedanken, die man eben an einem ganz normalen Tag hatte, wie immer, geändert hatte sich dabei nie etwas.
Der Vertriebschef begrüßte auf dem Weg einen Mann, der ebenfalls aus dem Auto stieg; elegant gekleidet, mit kurzen graumelierten Haaren, einer aus der Realisation, Prepress , soviel sie wusste. Sie gingen lachend auf den Eingang zu, beide sahen kurz
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