Geh aus, mein Herz
freundlich.«
Muhammad Azad legte die Hände zusammen.
»Ich sage das nicht, weil mir das hier passiert ist. Früher war etwas anderes in der Luft.«
»In der Luft?«
»Es war eine andere Atmosphäre, ein anderes Gefühl … Meine Freunde sagen das auch. Wir sind jetzt mehr Außenseiter als früher – fremder als damals vor vielen Jahren, als wir hergekommen sind. Die Behörden sind misstrauischer.«
Kajsa Lagergren schwieg, dachte an Reisen, von denen Kollegen erzählt hatten, die Reisende ohne Rückfahrticket zu einem zerstörten Dorf eskortiert hatten, Reisende, die sieben Jahre in Schweden gelebt hatten, einem großen Land, wo die Gesellschaft mangels Menschen zerfiel.
Muhammad Azad sagte etwas. Er sprach wie mit sich selber.
»Entschuldigung, ich habe gerade nicht zugehört.«
»Nicht nur die Behörden. Auch die Leute. Die Leute waren früher zuvorkommender.«
Kajsa Lagergren hatte noch den Geschmack von Zimt auf der Zunge, als sie das niedrige Mietshaus verließ, in dem die Familie wohnte. Es hatte aufgehört zu regnen; der blassblaue schwedische Himmel erinnerte sie an eine Vase, die auf dem Tisch vor ihr in der Wohnung der Familie Azad gestanden hatte: Weiß auf Blau, zerrissene Wolken wie zerfetzte Schleier, dachte sie, während sie gleichzeitig das Hochzeitsfoto vor sich sah, das im Flur gehangen hatte. Elnas ganz in Weiß, Muhammad ohne dieses Handtuch, das er gegen sein Gesicht gepresst hatte.
Sie ging zum Auto, legte den Sicherheitsgurt an, startete und schwenkte auf die Toltorpsgatan ein, fuhr um das Rondell herum die Bifrostgatan hinauf und dann den Göteborgsvägen hinunter, der weiter nördlich Mölndalsvägen hieß. Hier fühlte sich Kajsa Lagergren heimisch. Genau an dieser Stelle, wo der Bifrostvägen mündete, kehrte sie immer in einer weichen Kurve um und lief zurück, manchmal zwei-, dreimal in der Woche, und sie schämte sich ein wenig für ihre phantasielose Auswahl der Laufstrecke. Außerdem war die Luft hier sehr schlecht. Wie viele Male hatte sie daran gedacht, in die Änggårdsberge hinaufzugehen? Ein paarmal war sie auf dem Mölndalsvägen gelaufen, aber sie hatte keine Lust, erst die ganze Stadt zu durchqueren, nur um zu joggen. Es war immer dasselbe: Sie wollte sofort nach der Arbeit hinaus, hatte nur eine Sehnsucht, raus aus dem Alltag und rein in die Trainingssachen und Schuhe und zur Tür hinaus, drei Minuten Stretchen an der Hausecke und dann geradewegs über Heden zum Södra Vägen und weiter nach Süden.
Sie schaltete das Radio ein; es war auf einen privaten Sender eingestellt, und sie fragte sich, warum wohl jedes Mal, wenn sie das Radio einschaltete, Hotel California gespielt wurde. Kajsa Lagergren drehte den Knopf nach rechts zu einem anderen Sender, klopfte den Takt zu Pretty Woman, passierte die ausgebrannte Lücke von Muhammad Azads ehemaliger Pizzeria und stellte die Musik mitten in Roy Orbisons sehnsuchtsvoller Suche nach Frauen down the street ab.
Rauchhandgranaten, schwarze Masken, Misshandlungen, Bedrohung. Über die ganze Stadt verstreut, innerhalb und außerhalb des Wallgrabens. Ein riesiges Gebiet. Sie hatte das Gefühl, sie müsse sich eine Weile freinehmen, um ihren Dienst besser in den Griff zu bekommen; Zeit haben, um das Muster zu erkennen. Es gab ein Muster, das Ganze wirkte organisiert, von einer widerlichen Professionalität.
Rauch und Staub. Sie wollte sich einreden, es seien immer noch Halsschmerzen nach dem Besuch im »King Creole« am Samstag. Es war ihr unbegreiflich, dass sie dort hingegangen war, unbegreiflich; widerstandslos war sie Janna und Betty gefolgt. So etwas konnte vorkommen nach Whisky und Wein und Zigaretten, die sie nicht gewohnt war.
Das war menschlich. Warum sollte sie sich nicht ein wenig betrinken, ins »King Creole« gehen, dort zum ersten Mal tanzen und ihre eigenen Frustrationen und Ängste und die anderer auf der Tanzfläche austoben? War sie ein Snob? War sie sich im Grunde zu fein für Tanzlokale? Nein. Oder?
Es lag ihr nicht. Das war der Grund, warum sie sich bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr nie nach solcher Art Gemeinschaft gesehnt hatte.
War sie deshalb einsam? Hatte sie es nötig, sich in den »King Creoles« der Stadt einen Mann zu suchen? Oder in etwas kultivierteren Bars? Verdammt. Sie hatte nicht die Energie, am Sonntag zu ihren Eltern zu fahren, all das Unausgesprochene zu spüren, wenn sie das Häuschen in Björkekärr betrat, die Mutter immer begierig, endlich den entscheidenden Mann in Kajsas
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