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Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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würde es wieder tun, aber was passierte dann? Was geschah mit der Unruhe in seinem Körper? Er ging zu dem Foto, das in einem ovalen Rahmen auf einem gebeizten braunen Schrank von seiner Mutter stand. Lange blieb er vor dem Bild stehen, und als er einen Schmerz spürte, wurde ihm bewusst, dass er wieder seine Nagelhaut abgekaut hatte. Er betrachtete seinen rechten Zeigefinger, der angefangen hatte, am Rand des weißen Nagelhalbmondes zu bluten.
    Er setzte sich direkt vor dem Fenster auf den Fußboden. Ihn fror. So sollte es sein. Er erhob sich und ging zu dem Haufen Decken am anderen Ende des Zimmers, trug eine zum Fenster und hüllte sich darin ein. Lange saß er so: dachte, plante, ging in Gedanken noch einmal das Telefongespräch durch, übte. Würde es leicht sein? Ja. Es konnte auch schief gehen. Nein. Niemals richtig schief.
    Hier konnte er nicht sitzen bleiben. Er stand auf und sog an seinem Zeigefinger, nahm den Geschmack von metallenem, erdigem Blut wahr. Warum finden die Menschen es widerlich, ihr eigenes Blut zu trinken, dachte er und ging in die winzige Küche, um Wasser über die rechte Hand laufen zu lassen.
    Er hatte Hunger. Er wollte nicht kochen, das wollte er nie. Wenn er das täte, würde er sich einsam fühlen, aber er war nicht einsam, er war von Menschen, die er liebte, im Haus umgeben, oder etwa nicht?
    Er setzte sich auf einen dreibeinigen Hocker in dem kleinen Vorraum, zog die schwarzen derben Schuhe an und schnürte sie zu, stand auf und riss den braunen Dufflecoat vom Bügel, zog sich im Gehen an und schloss die Tür hinter sich.
    Draußen regnete es stärker, als er beim Blick aus dem halb geöffneten Fenster in der Wohnung vermutet hatte. Das Wasser im Gesicht tat ihm gut; ihm war merkwürdig warm geworden, als er dort oben gesessen hatte, und darüber musste er nachdenken. Er ging zwischen den Häusern den Abhang zur Pizzeria an der Straße hinunter. Hierher ging er oft; manchmal holte er sich Pizza und Salat, aber häufig blieb er auch und setzte sich an einen der Tische ganz hinten im Lokal. Er mochte Pizza, er nahm fast immer die mit Champignons, Tomaten und Schinken.
    Er hatte auch den Mann gern, der das Restaurant allein führte, ein dunkler Mann, der aus einem ihm unbekannten Land kam. Er mochte ihn nicht fragen, auch nicht nach seinem Namen, das ging ihn nichts an. Der Dunkle arbeitete schwer, er sah dem Mann gern zu, wie er Teigklumpen zu runden, dünnen Fladen formte.
    Vielleicht saß er hier, weil er sich bei diesem fremden Mann heimisch fühlte. Der Mann war allein, aber er war nicht allein, denn er hatte ja seine Freunde in dem Haus, nicht wahr? Wie lange war dieser Mann schon hier? Vielleicht würde er abgeschoben werden. Wie lange würde er … Was würden sie machen? Sie könnten hierher kommen, sie waren überall, auf jede erdenkliche Weise gekleidet, nicht nur in Uniform. Und als er daran dachte, wurde er wieder unruhig und zögerte zehn Sekunden vor der Pizzeria, bevor er hineinging, grüßte und sich an seinen gewohnten Tisch setzte, da niemand anders im Raum war.
     
    Jonathan Wide schloss die Augen. Er hatte Placido Domingo so leise wie möglich gestellt und die Lautstärke dann langsam wieder höher gedreht. Se quel guerrier to fossi, und Verdis Musik füllte das Zimmer, »Aida« mit dem Orchester der Scala, und Wide schloss die Augen, erhob sich dann, ging zu der kleinen Musikanlage und drehte die Lautstärke wieder herunter.
    Die Bilder. Die Beleuchtung des Polizeifotografen ist wie einem Brian-de-Palma-Film abgeguckt, dachte er, nackte, klinische Beleuchtung. Er erkannte den Stil und sah den Fotografen vor sich: Regenmantel, Strickmütze, das rechte Auge kleiner als das linke nach all den Jahren hinter der Kamera, in denen er ein Auge geschlossen oder zusammengekniffen hatte vor gemarterten Körpern. Johnson, der stillste unter allen Kollegen, nie ein Wort über the real thing, nichts aus dem Mundwinkel über die Gewaltpornos der Unterhaltungsbranche.
    Die Bilder waren die richtige Wirklichkeit. Ard hatte sie geliefert, Wide hatte sich sechs Zentiliter J&B eingeschenkt, bevor er das Kuvert geöffnet hatte. Der Alkohol brannte in seinem Zwerchfell, als er die Fotos der Frau betrachtete. Sie waren direkt von vorn aufgenommen, von oben, von links und rechts. Die meisten Bilder zeigten das Gesicht von nahem, oder das, was von ihm übrig geblieben war. Die Augen waren weg, die Ohren waren abgeschnitten, der Mund war ein dunkles Loch. Wide konnte es nicht sehen, aber

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