Geh aus, mein Herz
er wusste, dass auch die Zunge nicht mehr da war. Es war ganz offenbar eine Botschaft und eine signifikante Tat: Das Opfer sollte das Jenseits in totaler Finsternis erreichen, ihm sollten keine Sinne für die Welt danach bleiben.
Die Bilder des Mannes haben denselben Charakter, dachte er. Über der Szene lag etwas unbeschreiblich Trauriges, abgesehen von der entsetzlichen Tat – es war die absolute Leere eines Gesichts, das seiner Identität beraubt worden war. Die Nase, dachte Wide, die Nase durften sie behalten. Warum? Das alte, vertraute Bild von den drei Affen: Hände vor den Augen, dem Mund, den Ohren, nichts sehen, nicht sprechen, nichts hören. Wo war der Sinn? Was bedeutete es? Sollten sie oder die Polizei es sehen? Oder war es die wilde, aber kalte Tat einer Bestie: weg mit allem, was vom Kopf abstand, fast allem?
Wide hob das schwere, dicke Glas und sah, dass es leer war. Er erhob sich, ging in die Küche, holte die Whisky-Flasche aus einem Schrank rechts vom Kühlschrank und schenkte sich erneut ein, aber diesmal nicht so viel. Er schraubte die Flasche fest zu, stellte sie hinter einige leere Flaschen und schloss die Schranktür.
Er war zwölf Jahre lang Polizist gewesen, die meiste Zeit beim Gewaltdezernat. Dort hatten sie viel gesehen, fast alles, was ein Mensch seinem Nächsten antun kann. Abgeschnittene Ohren waren nichts Neues. Es war auch nicht das erste Mal, dass er von abgeschnittenen Zungen hörte. Es gab Fälle, da hatten arme Kerle ihre Augen verloren: ein wild geschwungenes Messer, ein Stuhlbein, kaputte Flaschen. Aber genau so war es immer gewesen, fast immer: Auseinandersetzungen unter Betrunkenen oder Abrechnungen in allgemein berüchtigten Kreisen, der Täter oder die Täterin apathisch zusammengesunken, wenn die Polizei kam.
Aber er hatte all das nie auf einmal gesehen, erst auf einem Bild, dann auf zweien: Hier war es fast gleichzeitig geschehen, das Verbrechen war nicht von einem Nachahmungstäter ausgeführt worden, da nichts davon, wie die Opfer zugerichtet waren, an die Presse gegangen war. Ard hatte es gesagt. Er hatte noch mehr gesagt und Wide dachte über die Haupttheorien nach. Ein Modus Operandi verband die Vergangenheit des Mörders mit der Vergangenheit der Opfer. Die Verbindung zur Stadt in Småland war mehr als ein Zufall. Es brauchte auch nichts zu bedeuten: Mörder und Opfer mochten sich später im Leben begegnet sein, eine irgendwie geartete Beziehung gehabt haben. Oder: Es gab keine Gemeinsamkeit zwischen Mörder und Opfer, außer ihrer ersten und einzigen Begegnung.
Jemand, der auf Fremde wartete, seine Zeichen bei ihnen hinterließ.
Zwei hintereinander, dort draußen in der Stadt des Königs lief ein Serienmörder frei herum. Es könnte wieder geschehen, wie eine furchtbare Bestätigung. Wenn es wieder passierte, auf dieselbe Art, konnte es mehrere Dinge bedeuten, je nach Hintergrund des Opfers. Himmel, dachte Wide, ich setze schon fast voraus, dass es wieder passieren wird. Wenn es wieder passiert: Die Polizei, nicht er, sie war es, die sehr sorgfältig jedes Blatt im Leben der Opfer umschlagen musste. Sie mussten es jetzt tun, bei Ulla Torstensson und Rickard Melinder. Er wusste, dass sie es taten, mit all den phantastischen Mitteln, die der Polizei zur Verfügung standen. Alle drei Fahnder würden hart arbeiten. Jetzt war er ungerecht, er trank und fühlte sich milder. Vier. Vier Fahnder vielleicht sogar.
Er hatte das Telefon leise gestellt, aber das Klingeln brach trotzdem brutal in seine Gedanken ein. Er starrte es eine Sekunde an, ohne zu begreifen. Nahm ab.
»Wide.«
»Jonathan. Hier ist Sjögren.«
»Hallo.«
»Was machst du gerade?«
»Nichts.«
»Hörst du dir eine Oper an?«
»Ja.«
»Trinkst einen Whisky dazu?«
»Ja.«
»Liest?«
»Ja.«
»Hast du was gefunden?«
»Was meinst du damit?«
»Mensch, Wide, jetzt tu doch nicht so. Die Jahrbücher – jetzt ist ja klar, warum du reinschauen wolltest. Bist du wieder bei der Polizei?«
»Nein.«
»Privatfahndung also. Das ist ausgezeichnet, dann kann ich dich ja direkt zu unserem Gerichtsreporter durchstellen. Du bist ja an nichts gebunden.«
»Du machst wohl Witze.«
»Ja. Aber es ist wirklich eine unheimliche Geschichte. Was für eine Nacharbeit! Die Namen haben wir. Melinder, dieser Scheißkerl, den vergisst man nicht. Er war ein Schrecken. Ich erinnere mich daran, wie gemein er war, obwohl wir ja auch nicht gerade Engel waren.«
»Stimmt.«
»Wenn diese Ulla, von der du sprachst,
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