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Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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wirklich von zu Hause stammt, dann ist das ja wirklich lustig.«
    »Lustig?«
    »Komisch, ein Zufall oder ein unheimlicher Zusammenhang. Wahrscheinlich ist es jetzt an der Zeit, diese Hefte noch mal genau durchzusehen, auch für mich. Wer ist als Nächster dran? Du oder ich?«
    »Ich bin dankbar für jeden Tipp.«
    »Dann bist du also mit dem Fall beschäftigt?«
    »Nein. Aber er hat natürlich was Gewisses … Ich glaube, es ist ein Zufall.«
    »Das glaub ich auch. Aus Småland sind viele weggegangen, auch nach Göteborg. Aber es interessiert mich natürlich. So einer wie Melinder. Was aus ihm geworden ist. Was zu diesem Ende geführt hat.«
    »Eben haben wir gesagt, dass es ein Zufall ist. Nichts Bestimmtes hat zu diesem Ende geführt.«
    »Aber wenn es nun doch anders wäre?«
    Wide schloss die Augen, hörte die Stille in der Wohnung; er hatte den CD-Spieler nicht auf Repeat gestellt. Er hob das Glas. Leer.
    »Wir befinden uns jetzt in der zweiten Runde. Aber ich möchte gern, dass du ein bisschen über Melinder nachdenkst. Wie er war. Wer zu seiner Clique gehörte. Damals in der bösen alten Zeit.«
    »Der schönen Kinderzeit. Warum?«
    »Es interessiert mich einfach.«
    »Das ist doch gar nicht dein Fall.«
    »Nein. Es interessiert mich trotzdem.«
    »Aha. Über Melinder nachdenken. Nicht gerade eine angenehme Beschäftigung. Aber ich bin schon selbst drauf gekommen. Schließlich bin ich nicht von ungefähr Reporter geworden. Es könnte eine gute Story werden.«
    »Könntest du erst ein bisschen nachdenken, bevor du mit Schreiben loslegst?«
    »Wie meinst du das?«
    »Denk an mich, an meine Worte. Dass wir über Melinder reden, bevor er in deiner Story landet.«
    »Ich weiß nicht mal, ob’s eine Story wird. Auf jeden Fall müsste sie wasserdicht sein. Wir haben einen neuen stellvertretenden Nachrichtenchef und Herausgeber, der echt taff ist, es mit Ethik und Moral aber ziemlich genau nimmt.«
    »Das klingt nach einer sonderbaren Mischung.«
    »Ist aber nicht so. Er hat die harte Schule der Abendzeitungen durchgemacht. Als er zu uns kam, kriegte er die Ethik und die Moral.«
     
    Jonathan Wide spülte das Glas, trocknete es gründlich ab und stellte es in den Schrank. Dann ging er zurück an den Schreibtisch und betrachtete die Bilder von Ard und das Foto von Ulla Torstensson, das er von ihrem Mann bekommen hatte. Das Bild von Rickard Melinder, zusammen mit neunundzwanzig anderen Kindern um die zehn, er hatte sie gezählt. Sie saßen und standen vor der Tafel, er musste selbst einmal in diesem Raum gewesen sein. Alle sahen gleich aus, alles war gleich.
    Wide sah, wie das Licht vom Fenster in einem Winkel über der Kinderschar gebrochen wurde. Es verlieh denen in der mittleren Reihe eine Art Glorienschein, ein Extra-Licht genau über den Köpfen. Natürlich war das niemandem von den Abgebildeten in jenem Moment aufgefallen. Es musste eine kleine Sensation gewesen sein, es nachträglich zu entdecken, als die Bilder vom Fotografen kamen. Rickard Melinder. Wide zählte die Köpfe. Das vierte Gesicht von links in der mittleren Reihe. Ein grausames Kind mit Glorienschein. War er nicht auf dem Holzweg? Kinder können manchmal ekelhaft sein, aber wieso maßte er sich an, das zu beurteilen, wie er es vor Sten getan hatte? Scheißkerl. Wer war ohne Schuld?
    Er erinnerte sich nicht an alles, er dachte so selten an die Kindheit. Eine Schwäche, zugegeben. Er würde es mit seinen eigenen Kindern nachholen, neu lernen, ein guter Vorsatz. Da gab es nur ein Problem: dass er nicht mit seinen Kindern zusammenlebte. Wie in Teufels Namen hatte er so versagen können. Ein Missverständnis. Ein riesiges Missverständnis, das nur einmal im Leben möglich war: Er war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen und hatte das getan, was dazu führte, dass sich einem der Boden unter den Füßen öffnete und nie wieder schloss. Hör jetzt auf, dachte er, hör auf, verdammt noch mal. Und er ging in die Küche, nahm ein dickes, kleines Glas, öffnete die Schranktür, holte die Flasche heraus und füllte es. Eine schwache Leistung, dachte Wide pathetisch in seinem schnapsstinkenden Selbstmitleid und trank gierig. Der Schnaps geriet ihm in die falsche Kehle und er hustete heftig. Er beugte sich über das Spülbecken und spürte einen schwachen Brechreiz, einmal stärker, dann wieder schwächer, und er warf das Glas ins Becken – es blieb ganz, stellte er durch einen Tränenschleier fest. Er nahm den intensiven Whiskygeruch nach Rauch

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