Geh aus, mein Herz
während andere Parasiten auf der Erde den Tod verdienten. Die Grausamen sollten sterben.
Die Menschen überschätzten sich, wie oft hatte er das nicht schon gedacht. Das dachte er auch jetzt, während er etwas tiefer in das Palmenhaus ging. Er stellte sich neben einen Bambus. In diesem Teil des Gebäudes war niemand, hier waren nur er und die Pflanzen. Was waren Menschen gegen das Bambusgras? Es konnte wie ein zehn Stockwerke hohes Haus vierzig Meter hoch werden, der Stamm konnte einen halben Meter Umfang haben, noch mehr. Was war schon das bisschen Mensch gegen einen solchen Bambus?
Es war halb eins und hier drinnen herrschten dreiundzwanzig Grad. Er ging zum südlichen Balkon hinauf und setzte sich auf eine der Bänke, knöpfte seinen Kragen auf und versank in der weißen, verschlissenen, grünspanfarbenen Umgebung. Es war angenehm, in der feuchten Wärme zu sitzen und dann nach Hause zu gehen, wo sich die Winde frei bewegten und für frische Luft in seiner Wohnung sorgten. Dort fror er gern, das mochte er, er trug ja die Gerüche von hier mit sich, sein Mantel duftete nach grüner Freiheit.
Er verließ den Balkon und ging für einige Minuten ins Mittelmeerhaus, wo die Luft trockener, die Düfte intensiver waren. Lange betrachtete er den Drachenbaum. Er hätte gern den Stamm gestreichelt, aber er wusste, dass man so was nicht tat. Schließlich war er hier Pfleger gewesen, er wusste, wie man sich gegenüber dem hehren Wachstum zu verhalten hatte.
22
Er hatte sich verfahren, musste bei einem unbewohnten Hof drehen und fand endlich die Abzweigung vor der neuen Straße, die irgendwann in den letzten Jahren gebaut worden war. Ein Schild kündigte einen Badeplatz an. Wide bog nach rechts ab, fuhr an etwas vorbei, das vielleicht einmal eine Schule gewesen war, dann einen Kilometer weiter einen Schotterweg entlang, bis er eine kleine Abzweigung nach links sah. An der Einfahrt stand ein sehr altes Gestell für Milchkannen, wie zur Erinnerung daran, wie es einmal gewesen war.
Wide hielt an, nahm einen Zettel aus der Innentasche seiner Wildlederjacke und studierte die Handskizze, las die Anmerkungen am Rand: Beim Milchgestell abbiegen, 500 Meter weiter bis zu einem Hof, der Weg führt nach rechts einen Abhang hinunter in den Wald, wird schmaler, bis zum Ende fahren, ungefähr einen Kilometer. Dort ist es.
Er fuhr in den Wald, auf dem Weg zeichneten sich schwache Traktorspuren ab, aber sicher es war schon lange her, seit hier zuletzt ein Auto gefahren war. Das war kein einladender Weg.
Als er vorsichtig die letzten hundert Meter fuhr, tauchte das Haus wie am Ende einer Allee auf. Er hielt vor einem rostigen Tor, stieg aus und stellte erstaunt fest, dass sich doch Autospuren auf der Erde abzeichneten. Er bückte sich und betrachtete sie genau: Sie waren zwar schon alt, stammten aber auch nicht gerade aus der Vorzeit. Jemand hatte hier draußen etwas zu erledigen gehabt. Vielleicht ein Makler, jemand von einem Bausyndikat. Das Gebäude mit dem Anbau stand seit mindestens sechzehn Sommern leer. Eine Auseinandersetzung um Grund und Boden hatte den Abriss oder Umbau verhindert, aber Wide fragte sich, ob inzwischen irgendwas passiert war, obgleich der Streit beigelegt war. Das Grundstück, abseits gelegen und von dichtem Wald verborgen, war vermutlich nicht besonders attraktiv. Hätte es nicht in der Nähe den See gegeben, hätte hier vermutlich nie jemand gebaut.
Wenn es nach ihm ginge, würde hier auch nie mehr gebaut werden, jedenfalls kein Sommerlager. Nach seinen eigenen Erfahrungen in jenem Sommer war er kein Anhänger solcher Einrichtungen. Als Kind hatte er nicht begriffen, warum er sich von seiner Mutter trennen und zu einem siebzig Kilometer entfernten fremden Ort fahren sollte, um den Sommer mit sechzig anderen verschreckten, einsamen Kindern zu verbringen. Es war etwas weiter südlich in dieser Gegend gewesen, aber genau wie hier könnte es dort ausgesehen haben. Wide öffnete das Tor, das vor Rost kreischte. Vor ihm lag ein einstöckiges Holzgebäude; die weiße und gelbe Farbe blätterte ab, das Dach hatte auffallend viele neue Pfannen. Von hier aus wirkten viele Fenster intakt, und Wide vermutete, dass die Fenster im Erdgeschoss Licht in einen Speisesaal warfen und die oberen Schlafsäle erhellten. Er konnte sich selbst dort drinnen vorstellen, ein Kind, das sein Gesicht am ersten Abend gegen die Scheibe drückte und auf den fremden Wald und Weg starrte, einen Weg, der es erst nach einer Ewigkeit wieder von
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