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Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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Körperformen. Sie setzte sich.
    »Sie haben sich also unter den Unglückskindern des Ortes umgehört.«
    »Wollen Sie das so nennen?«
    »Na ja, ein bisschen war es doch so. Es waren ja nicht gerade die Kinder reicher Leute, die in Sommerlager verschickt wurden.«
    »Verschickt wurden?«
    »So fühlte es sich gewissermaßen an, man wurde dorthin verfrachtet. Ich hab in Gislaved gewohnt, das ist gar nicht so weit von Värnamo entfernt, aber es hätte ebenso gut Härjedalen oder sonst wo gewesen sein können. Man fühlte sich so weit weg von zu Hause. Schließlich war man erst neun.«
    »Verfolgt Sie die Erinnerung?«
    »Nicht, dass es mir schlaflose Nächte bereitet hat. Aber was für eine seltsame Zeit das gewesen sein muss. Mit neun Jahren einen ganzen Sommer weg von zu Hause – und meine Mutter durfte mich in all den Wochen nur ein einziges Mal besuchen. Mir ist es unvorstellbar, dass ich meine Tochter als Neunjährige oder in sonst einem Alter einen ganzen Sommer weggeben sollte und sie nicht treffen dürfte.«
    »Ich verstehe.«
    »Sie wissen es ja selber, da Sie auch in einem Sommerlager waren.«
    »Ja.«
    »Außerdem muss man sich fragen, warum Eltern das zugelassen haben. Aber es war eben eine andere Zeit. Meine Mutter hatte es schwer, allein mit mir und mehreren kleinen Geschwistern. Sie brauchte Entlastung.«
    Wide biss in eine Brotschnitte und nahm den Geschmack nach echter Butter und kräftigem Käse wahr.
    »Wie war denn der Sommer im Sommerlager?«
    »Es ist seltsam, aber ich kann mich kaum erinnern. Eigentlich müsste es doch genau umgekehrt sein, schließlich war es eine ganz neue Erfahrung. Aber anfangs war ich vermutlich etwas geschockt – die vielen Kinder, die Betreuerinnen, der Vorsteher, der große Speisesaal, in dem es klirrte und klapperte. Die Schlafsäle. Manchmal kommt es mir in der Erinnerung so vor, als wäre ich als neunjähriges Mädchen zum Militär einberufen worden.«
    »Sie sagen, es war eine Art Schock. Haben Sie ihn dann überwunden?«
    »Nach einer Weile schon. Man findet Freundinnen. Da waren ein paar Mädchen, mit denen hab ich immer gespielt, das ist mir eingefallen, nachdem wir miteinander telefoniert hatten. Ich erinnere mich auch an einen Namen, aber an nicht mehr.«
    »Sie haben also darüber nachgedacht.«
    »Weil ich so viel rede? Vielleicht. Irgendwann will man wohl darüber reden.«
    »Ja.«
    Eine Weile schwiegen sie, Wide hörte keinen Laut von der Straße. Das Tick, tick, tick der Uhr rahmte das Gespräch ein. Die Frau schenkte ihm Kaffee nach.
    Er öffnete den Umschlag, den er mitgebracht hatte.
    »Ich habe hier ein Bild und möchte, dass Sie es sich anschauen.«
    »Darf ich mal sehen.«
    Er nahm das Foto von seiner eigenen Schule heraus, auf dem die Sonne durchs Fenster schien und alle Kinder in kleine Engel verwandelte.
    »Das ist ja ein Klassenfoto. Mal sehen, ob ich Sie erkenne.«
    Sie schaute genau hin, er wartete, sie hob den Blick und tippte auf ein kleines Gesicht auf dem Bild.
    »Da.«
    »Genau.«
    »Sie gucken ein bisschen störrisch, wenn ich das sagen darf.«
    Wide legte ihr ein anderes Foto vor.
    »Noch ein Klassenfoto.«
    »Ja. Auf diesem Bild ist ein Gesicht, das auch im Sommerlager war, jemand, der im selben Sommer dort war wie Sie.«
    »Den ich wiedererkennen soll? Dann war das erste nur ein Test?«
    »Nicht direkt. Ich weiß auch nicht, warum ich es Ihnen gezeigt habe. Sie sind mir doch nicht böse?«
    »Nein, nein. Aber Menschen verändern sich unterschiedlich. Sie scheinen eine Menge erlebt zu haben, wenn ich das so ausdrücken darf; trotzdem haben Sie sich seit Ihrer Kindheit nicht vollkommen verändert. Bei anderen ist das nicht so.«
    »Stimmt.«
    »Jetzt wollen wir mal sehen … Hier herrschen ja komische Lichtverhältnisse. Es sieht aus, als hätten die Kinder eine Art Glorienschein, jedenfalls die in der mittleren Reihe.«
    »Das ist mir auch schon aufgefallen. Aber lassen Sie sich ruhig Zeit. Mir geht es um einen Jungen.«
    Sie studierte das Bild, die große Uhr schlug die Zeit, die zu Minuten wurde.
    »Neeeein – da ist niemand, den ich spontan erkenne. Außerdem hab ich mich damals nicht mit Jungen abgegeben. In dem Alter war ich noch nicht reif.«
    »Schauen Sie noch einmal genau hin.«
    Wide wartete.
    »Nein, ich erkenne wirklich niemand.«
    Wide legte seinen Finger auf Rickard Melinders Hals. Siv Karlsson schwieg, hob das Foto hoch, legte es wieder hin.
    »Nein.«
    »Melinder, Rickard Melinder.«
    »Es ist schrecklich, was da in

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