Geh aus, mein Herz
Plötzlich steht ein Polizist vor der Tür und fragt nach dem Herrn des Hauses, und die Hausfrau will wissen, was passiert ist.«
»Aber so war es diesmal nicht.«
»Nein. Der andere war allerdings ein Herr des Hauses. Außerdem noch ein ziemlich hoch stehender. Bjurlinge sträubte sich lange, aber schließlich musste er uns den Namen nennen.«
Wide nahm schließlich einen Schluck.
»Wir leben in einer Zeit der Abweichungen. Das ist einerseits gut.«
»Wie meinst du das?«
»Es ist nötig, um dem kleinen Mann klar zu machen, dass nicht alles gleich aussieht. Dass Menschen unterschiedlich sind oder von der Norm abweichen, aber dass sie deswegen noch lange nicht böse sind.«
Ard applaudierte im Stillen, nahm das Glas vom Tischchen und prostete Wide zu.
»Du bist ein guter Mensch, Wide.«
»Ach, sei still.«
»Die Gesellschaft braucht dich. Ich brauche dich. Dieser Fall braucht dich, wie du soeben bewiesen hast. Dies ist ein Fall der Abweichungen.«
»Weißt du, was ich glaube?«
»Nein.«
»Wir haben es hier mit einem Opfer zu tun, das Jäger geworden ist, und einem Jäger, der Opfer geworden ist.«
»Könnte sein.«
»Und die erste Jagd begann vor mehr als dreißig Jahren.«
»Wenn es mehr als eine Jagd war.«
»Es muss die erste gewesen sein.«
»Ja.«
»Was machst du jetzt, Jonathan?«
»Ich muss mit ein paar Gedanken ins Reine kommen. Und ein Gesicht verdrängen, ein totes. Es will einfach nicht verschwinden.«
»Da ist noch etwas, was du tun willst.«
»Ach?«
»Du kommst Samstagabend her und isst mit uns.«
»Besonderer Anlass?«
»Ist der nötig? Aber es gibt tatsächlich einen. Der bescheidene Anlass ist mein fünfzigster Geburtstag. Den hab ich nächste Woche noch mal, aber wenn es dann in unserem Fall brisante Entwicklungen geben sollte, dann verschiebe ich ihn, bis wir einen Fortschritt erzielt haben.«
»Also nur ein kleines Mittagessen.«
»Ein sehr kleines. Du bist eingeladen. Wir sind ganz unter uns – du, ich und Maja und eine junge Frau aus unserer Abteilung, mit der ich gut zusammenarbeite. Du hast sie kennen gelernt, kurz bevor du uns verlassen hast: Kajsa Lagergren.«
26
Sten Ard hatte sich von den Morden distanziert, auf diese Weise versuchte er, damit fertig zu werden. D-i-s-t-a-n-z: sich von einem Ereignis so weit wie möglich entfernt halten, um sein ganzes Ausmaß zu erkennen. Hoch oben auf dem Abstraktionspfad wandern, die ganze Perspektive sehen. Der Horizontlinie vom höchsten Punkt folgen. Basic, wie Ove Boursé gesagt hätte.
Von dort würde er die Scheiben der Wirklichkeit eine nach der anderen abschneiden, die einzelnen Teile durchdenken. Und dann: den Pfad bis zum Bodenschlamm hinunterklettern, falls es sein musste, bis zum gefrorenen Grund, den die Erde nie freigab, wenn Verbrechen und Schuld genügend tief reichten.
Es war, als ob die Tat an sich in prähistorischer Zeit geschehen wäre. War seine Distanz zu groß? Adrenalinschübe rasten durch seinen Körper, zurückgehalten von seiner Professionalität; aber er musste sich eingestehen, dass Anflüge von Zerstreutheit gewisse Tage im Dunkeln ließen während der Ermittlung. Vielleicht waren es die Art des Mordes und der Wahnsinn, der damit verbunden war. Oder die Dramatik, der rasche Verlauf – und dann das Schweigen. Und die bedrückende Ermittlungsarbeit. Die Enttäuschung, immer gegenwärtig, aber in wechselndem Ausmaß. Die Forderungen, die von oben ständig an die operative Verantwortung gestellt wurden – und ihm war bewusst, dass er nie frei davon sein würde, nie zu den oberen Rängen gehören würde. Diesen Wunsch verspürte er auch gar nicht. Aber in Momenten wie diesem, als er mit einer neuerlichen Anfrage von der Polizeidirektorin dasaß, die sich zwischen den Zeilen erkundigte, warum sich nichts tat … In Momenten wie diesem wünschte er sich größere Verantwortung – was in der Praxis weniger Verantwortung bedeutete – und einen Stuhl, von dem einen fast nichts mehr vertreiben konnte, wenn man sich erst einmal darauf niedergelassen hatte.
Sie hatten ein Profil, oder vielmehr mehrere. Sie arbeiteten. Sie hatten ein Phantombild, das der doppelt sehende und doppelnamige Obdachlose ihnen geliefert hatte. Er war mit einem weiteren Bericht wiedergekommen, und sie hatten ein neues Bild erstellt, das dem anderen ähnlich sah. Sie hatten den Zeugen ernst genommen. Das Problem bestand darin, dass es sie in Labyrinthe führen könnte. Der Mann, den sie ausgehend von dem digitalisierten Bild
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