Geh nicht einsam in die Nacht
Abend, und sie saßen auf einer Parkbank im Stadtteil Kajsaniemi, und ihr Kuss war lang und intensiv, und Sulo umarmte sie immer fester, und seine Hände wurden immer hitziger, immer aufdringlicher, und sie fragte ihn: »Liebling, kannst du nicht warten?« Sulos Hände wurden ruhiger, aber er atmete weiterhin schwer, und es kam keine Antwort, man hörte nur diese schweren Atemzüge, und Elina war eigentlich auch nicht besonders abweisend, nicht wirklich, denn als sie von der Bank aufstanden, ging sie weiter ganz, ganz dicht neben ihm, und sein Arm lag um ihre Taille geschlungen, und seine Hand spreizte sich aufwärts, und sie spürte, dass sie zu ihrer Brust wollte. Und sicher, sie war ja selbst ungeduldig und weigerte sich, sich deshalb zu schämen. Manchmal waren Ort und Zeitpunkt falsch, aber ihr Schoß sehnte sich trotzdem, und während sie langsam durch Kajsaniemi schlenderten, hallten die fremden Lieder in ihrem Kopf wider, all diese Lieder, die sie am Tag gehört hatte, und irgendwer in ihrem Inneren summte die unverständlichen Worte – oolomii … naaitendeeii … –, und der Rhythmus und die Wärme in der Musik lebten in ihr weiter, und sie ahnte, dass es Sulo genauso ging. Sie waren aufgetaut, ja, die ganzen vierzigtausend auf dem Platz waren in der Wärme der Musik geschmolzen: Es gab keinen ewigen Winter und keine ewige Dunkelheit mehr, es war Frühling, und bald würde es Sommer werden, und dieser ganze Tag hatte nach Jahren der Trauer und des Todes vom Leben gehandelt, und als sie das dachte, gingen sie am Sportplatz vorbei, und parallel zu ihm lagen hohe Holzstapel aufgereiht, und die beiden sahen, dass es zwischen zwei der Stapel einen schmalen Gang gab, der in eine anonyme und einladende Dunkelheit hineinführte. Sulo zog sie dorthin, zog sie ins Dunkel und küsste sie und dann noch einmal und schnappte ein bisschen nach ihrer Lippe, und ihr schoss noch ein kurzer abwehrender Gedanke durch den Kopf, wie kalt es doch war und dass sie sich erkälten könnte, aber dann gab sie nach und ließ zu, dass er sie tiefer in den Gang hineinzog, und als er sie hochhob, war sie schon bereit.
Das Kind wurde am 4. Februar 1946 geboren. Es war ein Junge, und sie tauften ihn Jouni.
* * *
Ich möchte euch zu einem seltsam lauen Januarabend 1961, fünfzehn Jahre später, mitnehmen.
Es ist Samstag, und die achtunddreißigjährige Elina Manner, Wäscherin und Teilzeitnäherin und seit drei Jahren Witwe, sitzt in ihrer Wohnung in einem Holzhaus in der Castrénsgatan und wartet darauf, dass Jouni, der ältere ihrer beiden Söhne, nach Haus kommt. Der zwölfjährige Oskari schläft bereits auf seiner Bettcouch. Elina hat gesagt, dass Jouni bis zehn zu Hause sein soll, aber mittlerweile ist es schon elf. Elina glaubt – oder hofft zumindest –, dass er im Kerho ist, dem Jugendcafé am Hagnäs torg. Jouni ist im Herbst jeden Samstagabend zu spät heimgekommen und manchmal auch unter der Woche, er ist noch keine fünfzehn, aber sie hat ihn nicht mehr im Griff, niemand hat den Jungen jemals im Griff gehabt, nicht einmal Sulo.
Es ist ein Januar ohne Schnee in Helsingfors, in späteren Zeiten wird das nichts Besonderes mehr sein, damals jedoch war es eine Ausnahme. In den letzten Tagen hat sich kein Lüftchen geregt, Straßen und Höfe sind vollkommen frei, und es gibt auch keine Eisdecke, nur dünne, einsame Schollen, die auf der reglosen Wasserfläche der Tölöviken und in der Djurgårdsviken und draußen auf der Kronbergfjärden treiben: Der Himmel ist undurchdringlich grau und das Ganze fast schon gespenstisch.
Elina hat unterhalb der Woche keine Zeit zum Lesen gehabt, nun aber die abgegriffenen und saucenfleckigen Donnerstags- und Freitagsausgaben der Tageszeitung Helsingin Sanomat aus dem Restaurant Tuulo mitgenommen und schlägt sie nacheinander auf. Sie liest langsam und akribisch, ihre Gedanken schweifen ab. Der Wettermann verspricht für die nächste Woche, dass es nicht schneien wird, die ungewöhnliche Wärme hält sich, sagt er. »Atomwinter«, schreibt ein Redakteur in einem Artikel. Was immer sie damit meinen . Sie liest über das Flugzeugunglück in Ostbottnien vor einigen Wochen: Inzwischen ist die Beerdigung gewesen, und der Pfarrer hat schöne Worte über die Vergänglichkeit des Lebens und die dunklen Abgründe in der Seele des Menschen gesprochen, aber an einer anderen Stelle steht, dass der Flugkapitän und sein erster Offizier die ganze Nacht gesoffen hatten und mit dem Taxi zur Arbeit gefahren
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