Geh nicht einsam in die Nacht
Kräfte« bezog sich darauf, dass Sulo Manner sowohl den Winter- als auch den Fortsetzungskrieg mit nur unbedeutenden Blessuren überstanden hatte: ein verstauchter Knöchel, eine überwundene Mumpserkrankung, ein Granatsplitter, der seine Hand gestreift und eine oberflächliche Fleischwunde aufgerissen hatte. Und das, obwohl er sich bei Taipale und Ihantala an den schlimmsten Frontabschnitten aufgehalten hatte. Auch seine Nerven ließen ihn nicht im Stich. Die Woche nach Mittsommer im Vorjahr … großer Gott, fast ein Jahr war seither vergangen, und immer noch detonierten Nacht für Nacht die Bomben und explodierten die Granaten in seinen Gehörgängen, es zischte und pfiff, und abgerissene Körperteile flogen durch die Luft, in der schwer der Rauch hing, und es roch nach Pulver und Eisen und verbranntem Fleisch, und seine Augen wurden von einer Flüssigkeit geblendet, die, wie er wusste, das Blut eines Kameraden war. Jede Nacht. Jede verdammte, höllische Nacht. Und in den zwei Wochen im Zivilleben war es nur noch schlimmer geworden: Als hätte das einförmige Leben im Feld geholfen, die Alpträume in Schach zu halten, und jetzt, da er wieder Zeit hatte zu denken und sich zu erinnern, brach die Hölle los. Jede verdammte, höllische Nacht. Denn so war es nun einmal: So wie bei allen anderen, die äußerlich unverletzt blieben, war stattdessen Sulos Inneres verletzt worden, er wusste es selbst, seine Träume beharrten darauf, es ihm zu erzählen, sie plapperten und plapperten, obwohl er möglichst lange daran festzuhalten versuchte, dass Träume Schall und Rauch waren und die Traumdeutung etwas war, womit sich nur Homophile beschäftigten. Sulo hatte getötet, meist aus der Distanz, aber manchmal auch Auge in Auge, und er hatte gesehen, wie Kameraden verstümmelt und buchstäblich in Stücke gerissen wurden. Er hatte einen seiner Männer, ein ehemaliges Mitglied eines Spähtrupps und Jugendfreund aus der Volksschule, gehäutet und an einen Baumstamm genagelt gefunden. Er hatte enthauptete Leichen gesehen – eigene Leute und Feinde –, entstellt und in einer Weise ihrer Menschlichkeit beraubt, die sich in seine Netzhaut eingebrannt hatte, obwohl er es nicht wollte. Sulo interessierte sich für Kunst und war selbst ein guter Zeichner: Es gab Momente, in denen er sich wünschte, er wäre Hieronymus Bosch, denn dann hätte er sich vielleicht malend von all dem befreien können.
Das meiste sah er auf der Karelischen Landenge: im Winter 1940, während des Vormarschs im Sommer 1941, in den Jahren des Stellungskriegs, im Verlauf des letzten, furchtbaren Sommers. Trotzdem ging ihm dieser schäbige und pathetische Lapplandkrieg nicht mehr aus dem Kopf. Die Evakuierung der Bewohner im Herbst, eine Evakuierung bei Regen und in trostlosem Grau. Frauen, Greise, Milchkühe und Pferde, die sich widerstrebend ins Exil treiben ließen. Schlecht gekleidete, hohläugige Kinder, die ihre plump geschnitzten Spielzeugautos über die nassen und schlammigen Landstraßen zogen. Nach den Kindern folgte mit hängenden Köpfen das Vieh, die Tiere muhten und bockten, während die Frauen und Alten hinter ihnen hergingen und mit der Peitsche schlugen und sie weiterhetzten. Und dann der Krieg selbst. Die halbwüchsigen Jünglinge, die nervöse Jungenarmee, die von versoffenen und gründlich kriegsmüden Offizieren angeführt wurde. Der fliehende Feind, die gesprengten Brücken, die verminten Fähranleger und Eisenbahnschienen. Die Ortschaften, die sie im Laufe des Herbstes einnahmen, die gespenstische Leere, die einsamen Schornsteine: wie auf den Fotos, die er von Tammerfors im Kriegsfrühling 1918 gesehen hatte. Ein lichter Wald aus rußigen Obelisken, den Totempfählen des Todes. Denkmäler über den lodernden Wahnwitz des Kriegs.
Den völligen Wahnwitz jedes Krieges.
Das Schlimmste an Lappland waren die Springminen, von denen es Zehntausende und mehr gab und die von Minenräumern entschärft werden sollten, die oft genauso jung und frisch ausgebildet waren wie Sulo, als die Reihe der Kriege begann. Junge, schlaksige Burschen wie Kari Savander, der jüngere Bruder seiner Verlobten Elina, der während der russischen Bombenangriffe im Februar vor gut einem Jahr ins wehrpflichtige Alter gekommen war. Kari, der unbedingt die Ausbildung zum Minenräumer absolvieren wollte und danach auf Veranlassung Sulos nach Lappland mitgekommen war. Sulo hatte den Gedanken in ihm geweckt, dass sie in diesem letzten Krieg Seite an Seite würden kämpfen
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