Geh nicht einsam in die Nacht
eine schlammige, erstickende Erinnerung, die einen niemals in Frieden lassen wird, in der man unwiderruflich ertrinkt, bereits ertrunken ist, und die hämmernde Frage beim Untergehen lautet: Wie kann ein Alptraum nur so lange dauern, dass er, wenn du endlich aus ihm erwachst, deine eigene Jugend und die deiner liebsten Freunde verbraucht hat?
Elina Savander ist kurz davor, von Trauer übermannt zu werden, aber im selben Moment endet »All Of Me«, und der Applaus und die Bravorufe für den Vokalisten holen sie in die Gegenwart zurück. Der Sänger, ein junger Mann mit schwarzem, zurückgekämmtem Haar, bedankt sich für den Applaus und setzt sich hinter der Band auf einen Stuhl, während die Peace Messengers die ersten Takte einer kubanischen Conga spielen. Otra Vez Me Has Robado Mi Viejo Corazón heißt diese Conga, aber das weiß Elina nicht, und sie merkt auch nicht, dass ihre rechte Hand – eine schmale, blasse Winterhand, die um die Fingerknöchel ein wenig rau und rot ist – anfängt, den Takt auf der Außenseite des Oberschenkels zu schlagen, als hätte diese Hand einen eigenen Willen. Allmählich geht es besser, ja, sie fühlt sich schon etwas besser, es sind ja nicht nur die Kriegsjahre, die den Körper steif und die Seele kalt und pessimistisch gemacht haben, es ist genauso die aufreibende Gegenwart, Tante Hilkkas Krankheit, die vergangene kühle und verregnete Maiwoche und das lange, ewig lange Tanzverbot. Das Tanzverbot ist noch nicht aufgehoben worden, die Behörden haben für den Friedenstanz lediglich eine Ausnahmegenehmigung erteilt, und Elina ist unsicher, denn sie möchte nichts Unpassendes tun. Körper und Seele sind gleichsam aus der Übung, man weiß nicht, ob man endlich wieder man selbst werden darf oder weiter ein anderer sein muss, zum Beispiel eine Heldin der Heimatfront, die still und duldsam ihre Opfer bringt. In ihrem Inneren ist alles noch träge und kalt, unbeweglich und stumm, winterlich: Es braucht seine Zeit aufzutauen, und so hat nicht nur Elina es empfunden, so ist es für alle gewesen, für die vierzigtausend auf dem Platz, für die Hunderttausenden, die in dieser Stadt wohnen, für die Millionen, die das Land bevölkern. Aber jetzt bahnt es sich an, die Conga mit ihren karibischen Rhythmen macht es möglich, es taut, das Eis schmilzt, in Mensch auf Mensch erwacht etwas zum Leben, und nachdem Elina sich nun aus ihrer Schwermut losgerissen hat, sieht sie auch anderes als die bedrückenden Erinnerungen in den geläuterten Gesichtern, sie sieht Freude, sie sieht Erwartung, sie sieht, wie es in Augenwinkeln aufblitzt, und hier und da erblickt sie sogar aufkeimende Verliebtheit, in das Leben oder den geschätzten Menschen neben einem. Und diese Freude beginnt zu wachsen, das Aufblitzen pflanzt sich fort: sachte, ganz sachte, arbeitet sich die Lebenslust in verfrorene und kriegsmüde Arme, Magengruben, Hüften und Beine vor, und genauso ergeht es auch Elina Savander. Sie beginnt, sich zur Conga zu bewegen, schwingt vorsichtig die Hüften und versucht sogar ein paar kurze Tanzschritte, eingeklemmt zwischen dem großen und breitschultrigen Mann rechts neben ihr und dem blonden und schlaksigen im Rollstuhl links von ihr. Und während sie sich weiter zur Musik bewegt, wendet sie sich dem Großgewachsenen zu und sagt: »Sulo, ich habe Durst, könntest du bitte die Thermoskanne nehmen und im Bahnhof schauen, ob sie im Kiosk etwas Erfrischendes haben, Saft oder Dünnbier oder etwas anderes?«
Er, der Große neben ihr, ist ihr Verlobter. Punkt. So sieht Elina Savander die Sache in diesem Frühjahr. Sie ist dazu erzogen worden, demütig zu sein und zurückzustehen, und wenn sie heute noch lebte und diese Charakterisierung läse, würde sie mit Sicherheit protestieren. Aber was hier steht, ist wahr. Es sind karge, grausame Jahre gewesen: Alle lechzen nach Liebe, und Elina, die sich nicht als Schönheit betrachtet, ist so über alle Maßen froh, weil Sulo überlebt hat und sie noch immer haben will, dass sie sehr häufig daran denkt, dass sie Verlobte sind und er ihr V-e-r-l-o-b-t-e-r ist, und wesentlich weniger daran, wer er wirklich ist, ein Individuum, ein Unikat, das bei seiner Taufe den Namen Sulo Uolevi Manner bekommen hat.
Sulo Manner ist Setzer von Beruf und kürzlich sechsundzwanzig geworden. Er hat noch nicht wieder angefangen zu arbeiten: Zwei Wochen ist es erst her, dass die letzten deutschen Soldaten Nordfinnland verlassen haben, und erst danach hat Sulo seine Uniform
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