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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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können, immerhin würden sie Schwäger werden, und deshalb hatte er dafür gesorgt, dass sie in dieselbe Brigade, jedoch nicht in dieselbe Kompanie kamen: Die Minenräumer hatten ihre eigenen Offiziere.
    An einem regnerischen Oktobertag vor den Toren Rovaniemis hatten die Minenräumer den Auftrag erhalten, eine Lokomotive unschädlich zu machen, die von den Deutschen schräg auf die Schienen gekippt und anschließend vermint worden war. Auch der Boden rund um die Schienen war vermint. Kari Savander hatte schräg dahinter gestanden und versucht, einem anderen Minenräumer Anweisungen zu geben, einem gewissen Ala-Kuoppala, der noch jünger war und noch weniger Erfahrung hatte als er selbst. Ala-Kuoppala hatte nicht aufgepasst; als er eine Mine freigelegt hatte und sie entschärfen wollte, war er auf eine andere getreten, die ihn in Stücke gerissen hatte. Sulo war zusammen mit vielen anderen Offizieren zum Unglücksort geeilt und hatte das Erstaunen in Ala-Kuoppalas Augen gesehen, als der Junge schon nicht mehr schrie, sondern nur noch stumm und kraftlos im strömenden Regen lag und in einem Feldzug starb, den er bis zu diesem Nachmittag eher als einen Jungenstreich empfunden hatte, eine ungefährliche und recht spaßige Schnitzeljagd. Kari Savander, der sich im Moment der Explosion fünf Meter hinter ihm befunden hatte, konnte sich noch zu Boden werfen und war mit einem amputierten Bein und oberflächlichen Wunden am Oberkörper davongekommen. Karis Unterkörper war seither jedoch gelähmt, und die Ärzte glaubten auch nicht, dass er jemals wieder etwas fühlen oder sich bewegen können würde.
    Sulo versuchte sich einzureden, dass ihn daran keine Schuld traf, jedoch vergeblich. Wenn er den an den Rollstuhl gefesselten Kari sah – was oft der Fall war, sie würden ja Schwäger werden –, spürte er ein schauderhaftes Gewicht in seiner Brust, das ihn beinahe umbrachte, und er bekam Lust, einfach loszurennen, aus Helsingfors hinaus, auf die Landstraßen, Kilometer für Kilometer, zu einer Stadt oder zu einem Dorf, das weit weg vom unglücklichen Kari lag, weit weg von Familie Savander. Aber dafür liebte er Elina zu sehr. Es grenzte an ein Wunder, aber Sulos schlechtes Gewissen wegen Karis Schicksal erstickte seine Liebe zu Elina nicht, es verstärkte sie sogar noch. Sulo sah nicht, dass Elinas geerbter Mantel ärmlich und fadenscheinig war oder dass ihre braunen Pumps verfärbt und hässlich aussahen. Sulo maß Elinas abgetragenen Kleidern keine Bedeutung zu, es interessierte ihn nicht, dass ihre Hände vom täglichen Umgang mit Seifenlauge und eiskaltem Spülwasser rau geworden waren, er scherte sich nicht darum, dass sie bereits erste Krampfadern hatte und von der Sonne schnell Pickel im Gesicht bekam. Es störte ihn nicht, dass ihr Gesicht so blass, ernst und verschlossen war, und er merkte auch nicht, dass ihre Augen vor lauter Müdigkeit und wegen all der Sorgen, die sie sich lange Jahre gemacht hatte, immer noch rot unterlaufen waren. Für Sulo war Elina Schönheit, sie bildete den hellen Kontrast zu allem Schlimmen, was er durchgemacht hatte, sie war das Dasein als Zivilist und dessen Hoffnungen und Verheißungen, sie war die Zukunft und die Liebe und das Glück, ja, sie war mehr als das: Sie war das Leben selbst.
    Sulo kehrte erst nach einer guten halben Stunde zurück. Inzwischen war der Sänger wieder ans Mikrofon getreten. Die Peace Messengers spielten Night And Day , und das Gedränge nahe der Ladefläche war sogar noch schlimmer als zuvor. Laufend strömten mehr Menschen zum Järnvägstorget, sie stießen und drängten sich rund um Kari Savander und seinen Rollstuhl, und Kari konnte nichts mehr sehen. Der Kiosk hatte einen Saft von äußerst suspektem Aussehen und Geschmack verkauft, aber Sulo hatte nur mit den Schultern gezuckt und die Verkäuferin gebeten, Elinas Thermoskanne damit zu füllen. Jetzt gab er sie Elina und bat sie, die Emaillebecher herauszuholen, die sie in einem Einkaufsnetz verwahrte. Anschließend beugte er sich über den Rollstuhl und flüsterte in Karis Ohr: »Ich habe einen Flachmann in der Tasche. Wir können ein bisschen Schnaps in den Saft mischen.« Lahja warf einen misstrauischen Blick in ihre Richtung, aber Kari schaute zu ihm hoch, lächelte dankbar und fragte: »Wer organisiert dieses Spektakel eigentlich?« »Ich glaube, der Demokratische Verbund für das finnische Volk«, antwortete Sulo. »So, so, und was sind das für Leute?«, wollte Kari wissen. »Die Kommunisten,

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