Geheime Lust
eine Frau fortschicken muss, weil wir keinen Platz für sie haben. Ein Job wäre in Anbetracht ihrer Lebensumstände höchst willkommen, da bin ich mir ganz sicher. Sie sprach davon, potenziellen Arbeitgebern diese Adresse als Kontakt zu nennen, aber sie fand immer nur Aushilfsjobs. Eine feste Stelle wäre wunderbar.«
Jace fiel vor Entsetzen die Kinnlade runter. Darauf war er nicht ansatzweise gefasst gewesen. Er wollte instinktiv leugnen, dass Bethany obdachlos war, und das, obwohl ihn die nagende Gewissheit schon nicht mehr losließ, seit er mit Ms Stover sprach. Doch dann dachte er an Samstagabend zurück. An Bethanys schäbige Kleidung. Den erschöpften Ausdruck in ihren Augen. Daran, wie sie gefragt hatte, ob ein Abendessen Teil der Abmachung sein würde. Heilige Muttergottes. Er war zutiefst erschüttert. Hatte sie Ashs Angebot nur angenommen, weil es die einzige Möglichkeit war, ein Quartier für die Nacht zu bekommen? Hatte sie keinen anderen Ausweg gewusst?
»Haben Sie sie seither wiedergesehen?«, fragte Jace stockend.
Ms Stover schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein. Aber sie kommt regelmäßig vorbei. Sie hat schon früher hier übernachtet.«
»Wissen Sie irgendetwas über sie, das mir dabei helfen könnte, sie zu finden?«, erkundigte sich Jace dringlich. Dann zügelte er seinen Eifer und bemühte sich um einen gelasseneren Ton. »Ich würde die Stelle vorzugsweise ihr geben, aber ich kann sie nicht für immer frei halten. Es ist zwingend erforderlich, dass ich Bethany sofort ausfindig mache.«
Er würde in der Hölle landen, weil er eine ältere Frau belog, und zudem auch noch eine, die ein Asyl für Frauen leitete, die sehr wahrscheinlich von verlogenen Bastarden wie ihm missbraucht wurden. Aber er würde Bethany niemals wehtun. Sollte es ihm gelingen, sie zu finden, würde er dafür Sorge tragen, dass sie nie wieder eine Nacht auf der Straße verbringen musste. Bei der Vorstellung, dass sie jetzt gerade dort draußen war, hätte er am liebsten die Faust durch die Wand gerammt, nur würde das in einem Frauenasyl bestimmt nicht gut ankommen.
»Leider nein. Sie ist immer sehr still, wenn sie hier ist. Sie bleibt für sich. Ich habe ihr die Adressen von ein paar anderen Heimen gegeben, aber ich bin mir sicher, dass sie sie längst alle kennt.«
»Ich möchte diese Adressen haben«, sagte Jace in flachem Tonfall. »Wie lange schon?«
Die Frau zog fragend die Brauen hoch.
»Wie lange kommt sie schon hierher?«
»Ich arbeite erst seit einem Jahr hier, aber seitdem war sie bestimmt ein halbes Dutzend Mal hier.«
Jace’ Brust wurde so eng, dass er kaum Luft bekam. Bethany – seine Bethany – war obdachlos. Eine Nacht lang hatte sie sicher in seinen Armen gelegen, doch trotz seines Reichtums, trotz seiner Möglichkeit, ihr das zu geben, was sie am dringendsten brauchte, hatte er sie entschlüpfen lassen. Zurück in die Kälte, die Ungewissheit.
Großer Gott, sogar jetzt, in diesem Moment, war sie irgendwo dort draußen in den Straßen. Ohne Jacke. Frierend und hungrig. Schutzlos.
»Tun Sie mir bitte einen Gefallen, Ms Stover.«
Jace drückte ihr erneut seine Visitenkarte in die Hand und schloss ihre Finger darum.
»Sollten Sie sie wiedersehen, rufen Sie mich sofort an. Bei Tag oder bei Nacht. Meine Handynummer steht hier drauf. Kontaktieren Sie mich unverzüglich, falls sie auftaucht, und halten Sie sie unbedingt hier fest, bis ich komme. Können Sie das für mich tun?«
Ms Stover runzelte die Stirn und sah ihn seltsam an. Jace beeilte sich, seine Eindringlichkeit zu erklären, bevor sie wieder argwöhnisch werden und seine Geschichte auffliegen lassen konnte.
Das Verteufelte war nur, dass er tatsächlich wie ein geistesgestörter, obsessiver, missbrauchender Freund klang, der fest entschlossen war, seine flüchtige Geliebte einzufangen. Herrgott. Könnte Ash ihn jetzt sehen und hören, würde er mit Gabe hier anrücken und ihn gewaltsam wegschleifen. Anschließend würden sie ihm vermutlich einen Seelenklempner besorgen.
»Ich habe Verständnis für Bethanys Notlage, Ms Stover. Sie ist eine qualifizierte Kandidatin, und nun, da ich ihre Lebensumstände kenne, ist es mir umso mehr ein Bedürfnis, ihr die freie Stelle zu geben. Ich könnte jemand anderen nehmen, aber sie braucht den Job. Würden Sie mich bitte kontaktieren?«
Jace war stolz auf seinen gelassenen Tonfall. Es war ihm sogar gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, dass er nicht den Verstand verloren hatte.
Ms Stover
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