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Geheime Melodie

Geheime Melodie

Titel: Geheime Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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ausgewählt wurde. Jeder, der an den Pfad der Mitte glaubt, darf ihn hochheben und fühlen, wie leicht es ist, diesen Weg zu gehen. Und wenn der Mwangaza stirbt, weißt du, was dann mit seinem Zauberstock passiert?
    Der Mwangaza humpelt daran in den Himmel, vermute ich schl äfrig, mein Kopf auf ihrem Bauch.
    Nicht witzeln, Salvo, bitte. Er kommt in ein wundersch önes neues Museum der Einheit, das an den Ufern des Kivusees erbaut werden soll, wo alle ihn ansehen können. Er wird an den Tag erinnern, an dem Kivu der Stolz des ganzen Kongo wurde, einig und frei.
    * * *
    Und hier ist er. Der Stock. Der Zauberstock des Mwangaza. Er liegt vor uns auf dem gr ünen Tuch, wie eine Miniaturausgabe des Amtsstabs aus dem Unterhaus. Die Delegierten haben die magischen Zeichen darauf begutachtet und ihn in der Hand gewogen. Für den alten Franco ist er ein bedeutsamer Gegenstand – aber ist es Bedeutsamkeit der richtigen Art? Für Haj ist er eine Ware. Woraus ist er gemacht? Funktioniert er? Bei uns kriegen Sie ihn billiger. Dieudonnés Ausdruck ist weniger leicht zu deuten. Wird er meinem Volk Frieden und Gleichheit bringen? Werden unsere Propheten seine Kr äfte gutheißen? Wenn wir um seinetwillen in den Krieg ziehen, beschützt er uns dann vor den Francos dieser Welt?
    Maxie hat den Stuhl schr äggestellt, um die Beine ausstrecken zu können. Seine Augen sind geschlossen, der Kopf zurückgebogen, die Hände im Nacken gefaltet wie bei einem Sportler, der auf seinen Einsatz wartet. Mein weißgelockter Retter Philip lauscht mit dem ruhigen Lächeln eines Impresarios. Er hat das zeitlose Gesicht mancher englischer Schauspieler, habe ich bei mir beschlossen. Er könnte jede Rolle zwischen fünfunddreißig und sechzig spielen, und das Publikum nähme sie ihm ab. Wenn Tabizi und der Delphin meiner Übersetzung folgen, lassen sie es sich nicht anmerken. Sie kennen die Reden des Mwangaza, wie ich die von André kannte. Dagegen habe ich eine unerwartete Zuhörerschaft in den drei Delegierten gefunden. Nach der flammenden Tirade des Mwangaza auf Swahili kommt ihnen dieses unemotionalere französische Echo für eine zweite Anhörung ganz gelegen. Haj der Studierte lauscht kritisch, Dieudonné gedankenvoll, gleichsam nickend bei jedem der kostbaren Worte. Und Franco lauscht mit geballten Fäusten, bereit, es mit jedem aufzunehmen, der ihm widerspricht.
    Der Mwangaza spielt nicht mehr den Demagogen, jetzt kehrt er den Volkswirt hervor. Ich schalte beim Dolmetschen ebenfalls einen Gang herunter. Kivu wird ausgeraubt, verk ündet er streng. Er weiß, wieviel Kivu wert ist und um wieviel es geprellt wird. Er hat s ämtliche Zahlen parat und wartet, während ich sie auf meinem Block mitschreibe. Ich lächle ihm diskret meinen Dank zu. Er nickt und rattert die Namen der von Ruanda kontrollierten Bergbaugesellschaften herunter, die sich an Kivus Bodenschätzen bedienen. Da die meisten Namen französisch sind, übersetze ich sie nicht mit.
    »Warum lassen wir das mit uns machen?« will er zornig wissen, und seine Stimme schwillt wieder an. »Warum schauen wir tatenlos zu, wie unsere Feinde sich an unseren Bodenschätzen eine goldene Nase verdienen, wenn wir sie doch am liebsten hochkant rausschmeißen möchten?«
    Er hat eine Landkarte von Kivu. Der Delphin hat sie an der Tafel aufgespannt, und der Mwangaza steht daneben und drischt mit seinem Zauberstock auf sie ein, w ährend seine Wortsalven dahinknattern, immer dicht gefolgt von den meinen, nur daß sie bei mir leiser daherkommen, eine gemäßigtere, leicht abgemilderte Version – was wiederum mich in seinen Augen, wenn schon nicht zum Resistance-Mitglied, so doch zum Zweifler stempelt, der ins Boot geholt werden muß.
    Er h ört auf zu sprechen, ich auch. Er starrt mich direkt an. Beim Starren zieht er auf bewährte Medizinmänner-Art die Augenmuskeln zusammen, wodurch sein Blick noch visionärer und eindringlicher wirkt. Jetzt sind es nicht mehr meine Augen, die er im Visier hat, es ist meine Haut. Er studiert mein Gesicht, dann, falls da ein Unterschied festzustellen ist, meine Hände: mittel- bis hellbraun.
    »Monsieur Interprète!«
    »Mwangaza.«
    »Kommen Sie vor, mein Junge!«
    F ür ein paar Schläge mit dem Rohrstock? Damit ich vor versammelter Klasse meine Sünden beichte? Von allen beobachtet, gehe ich den Tisch entlang, bis ich schließlich vor ihm stehe – nur um festzustellen, daß ich ihn um einen ganzen Kopf überrage.
    »Und was sind Sie, mein Junge?« fragt er in

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