Geheime Melodie
BIBLIOTHEK und höre das voraussagbare Klirren von Tellern und Besteck, während das Büfett in Gang kommt. »Darf ich Ihnen eine Scheibe abschneiden, Sir?« fragt Gladys (oder ist es Janet?) in überraschend gutem Swahili. Ich rufe mir den Lageplan der zum Speisesaal umfunktionierten Bibliothek vor Augen: ein Büfett mit Bedienung, dazu zwei Zweiertische und ein Vierertisch, jeder davon meiner Konsole zufolge mit eigener Wanze. Die Terrassentüren sind weit geöffnet für diejenigen, die sich im Freien zu ergehen wünschen. Gartentische, auch sie verkabelt, stehen für sie bereit. Philip gibt den Maître d’hôtel.
»Monsieur Dieudonné, warum nehmen Sie nicht hier Platz? – Mzee Franco, wo sitzen Sie denn mit dem Bein am bequemsten?«
Worauf lausche ich? Warum bin ich so wachsam? Ich w ähle einen Tisch aus und höre Franco im Ge spr äch mit dem Mwangaza und dem Delphin. Er beschreibt ihnen einen Traum, den er hatte. Afrikanische Träume habe ich als das Kind, das es nicht gab, von den Missionsdienern in Mengen zu hören bekommen, deshalb überrascht mich der von Franco nicht weiter, und die kühne Auslegung, die er mitliefert, auch nicht.
»Ich ging in den Hof meines Nachbarn und erblickte einen Leichnam, der mit dem Gesicht nach unten im Dreck lag. Ich drehte ihn um, und meine eigenen Augen starrten zu mir empor. Da wußte ich, es ist Zeit, den Anordnungen meines Generals Folge zu leisten und den Mai Mai gute Bedingungen für diesen großen Kampf zu verschaffen.«
Der Delphin bekundet mit einf ältigem kleinem Lachen seinen Beifall. Der Mwangaza gibt sich unverbindlich. Aber ich habe nur Ohren für das, was ich nicht höre: das Klacken grüner Krokoschuhe auf Schieferboden, das schrille Hohnmeckern. Ich schalte auf den ersten der kleinen Tische um: Philip und Dieu-donné, die in einem Gemisch aus Swahili und Französisch landwirtschaftliche Praktiken erörtern. Ich schalte zum zweiten und bekomme nichts. Wo ist Maxie? Wo Tabizi? Aber ihr Hüter bin ich ja nicht. Ich bin Hajs Hüter, und wo steckt er? Ich schalte wieder zum Vierertisch, falls er seine Gedanken aus Respekt vor der Freundschaft des großen Mannes mit seinem Vater nur ein Weilchen für sich behalten hat. Statt dessen höre ich Poltern und Schnaufen, aber überhaupt keine Stimmen mehr, nicht einmal die des Mwangaza. Es dauert ein bißchen, bis ich mir zusammenreime, was da passiert. Franco hat sein Fetischsäckchen aus den Tiefen seines riesigen braunen Anzugs hervorgeholt und breitet dessen Inhalt vor seinem neuen Anf ührer aus: das Knöchelbein eines Affen, eine Salbendose, die einst seinem Großvater gehört hat, ein Stück Basalt aus einer versunkenen Urwaldstadt. Der Mwangaza und der Delphin bewundern die Schätze höflich. Sofern Tabizi auch dabei ist, hält er sich bedeckt.
Und immer noch kein Zeichen von Haj, so angestrengt ich auch lausche.
Ich kehre zu Philip und Dieudonn é zurück, wo sich inzwischen Maxie in die Unterhaltung eingeschaltet hat und sich in seinem schauerlichen Französisch über die Viehzucht der Banyamulenge ausläßt. Endlich mache ich das, was ich schon vor zehn Minuten hätte tun sollen. Ich schalte in den SALON des Mwangaza und höre Haj schreien.
* * *
Zugegeben, die Zuordnung war nicht gleich zweifelsfrei. Der Schrei enthielt keinen aus der breiten Palette der von Haj bereits geh örten Laute – aber dafür um so mehr bislang ungehörte, als da wären Todesangst, Qual und ein verzweifeltes Flehen, das nach und nach zu schwachem Gewimmer abklang, doch die Worte waren erkennbar, und sie bestätigten die Korrektheit meiner Vermutung. Ich kann diese Worte annähernd wiedergeben, nicht jedoch verbatim. Dieses eine Mal in meinem Leben verweigerte der Stift, wiewohl gezückt, den Kontakt mit dem Block. Aber es waren ohnehin Banalitäten, bitte und um Gottes willen, nein und aufh ören . Maria wurde beschworen, aber ob Haj die Muttergottes anrief oder eine Geliebte oder seine Mutter, blieb unklar.
Der Schrei kam mir au ßerdem extrem laut vor, was ich später relativieren mußte. Aber im ersten Moment schien es mir, als würde zwischen den beiden Muscheln meines Kopfhörers ein Draht gespannt, der rotglühend mitten durch mein Hirn verlief. Es war ein so durchdringendes Gellen, daß ich gar nicht glauben konnte, daß Spider es nicht auch gehört hatte. Doch als ich einen heimlichen Blick zu ihm hinüberschickte, hatte sich an seinem Verhalten nicht das geringste geändert. Er saß immer noch in derselben
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