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Geheime Spiel

Geheime Spiel

Titel: Geheime Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Morton
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trinke einen Schluck. Er ist lauwarm. Man kann es nicht mehr riskieren, mir ein heißes Getränk anzubieten. Ich bin schon zu oft unerwartet eingenickt.
    Sylvia setzt sich auf einen Stuhl. »Hat Anthony Ihnen schon von den Augenzeugenberichten erzählt?« Sie blinzelt dem Mann mit ihren maskaraverklebten Wimpern zu. »Hast du ihr von den Augenzeugenberichten erzählt? «
    »Ich bin noch nicht dazu gekommen«, antwortet er.
    »Anthony interviewt die alten Leute hier in der Gegend und lässt sie vor laufender Videokamera ihre persönlichen Geschichten über Saffron Green erzählen. Für den Heimatverein.« Sie lächelt mich an. »Die Stadt hat ihm sogar die Mittel dafür zur Verfügung gestellt. Eben hat er mit Mrs Baker da drüben gesprochen.«
    Gemeinsam erklären sie mir das Projekt, und hin und wieder schnappe ich Einzelheiten auf: mündliche Überlieferung, kulturelle Bedeutung, Millennium-Zeitkapsel, die Menschen in hundert Jahren …
    Früher behielten die Leute ihre Geschichten für sich. Sie kamen gar nicht auf die Idee, dass sie für andere Menschen interessant sein könnten. Heutzutage schreibt jeder Hinz und Kunz seine Autobiografie, und alle wetteifern darum, wer die schlimmste Kindheit und den gewalttätigsten Vater hatte. Vor vier Jahren kam ein Student von einem nahe gelegenen College nach Heathview
und hat alle möglichen Fragen gestellt; ein ernster junger Mann mit Akne und der Angewohnheit, beim Zuhören an den Fingernägeln zu kauen. Mit einem kleinen Kassettenrekorder, einem Mikrofon und einem Block mit handgeschriebenen Notizen ging er von Zimmer zu Zimmer und bat die Bewohner, ihm ein paar Fragen zu beantworten. Viele waren nur zu gern bereit, ihm ihre Geschichten zu erzählen. Mavis Buddling zum Beispiel hat ihm stundenlang von einem heldenhaften Ehemann berichtet, den sie nie hatte.
    Wahrscheinlich sollte ich mich freuen. In meinem zweiten Leben, als es Riverton nicht mehr gab, nach dem Zweiten Weltkrieg, habe ich viel Zeit damit zugebracht, nachzuforschen und die Geschichten der Leute zu sammeln. Nach Hinweisen zu suchen, blanken Skeletten frisches Fleisch zu geben. Wie viel leichter wäre meine Arbeit gewesen, wenn alle Leute ihre persönliche Geschichte aufgezeichnet hätten. Aber das Einzige, was ich mir vorstellen kann, sind lauter alte Leute, die unablässig darüber lamentierten, wie viel billiger die Eier vor dreißig Jahren gewesen sind. Sind sie vielleicht alle irgendwo zusammen in einem Raum untergebracht, in einem riesigen unterirdischen Bunker mit Regalen voller Tonbandkassetten bis zur Decke, mit Wänden voller trivialer Geschichten, die anzuhören niemand mehr Zeit hat?
    Es gibt nur einen Menschen, dem ich meine Geschichte erzählen möchte. Einen Menschen, für den ich sie auf Band aufnehme. Ich hoffe bloß, dass es den Aufwand wert ist. Dass Ursula recht hat: Dass Marcus zuhören und mich verstehen wird. Dass meine Schuld und die Geschichte darüber, wie ich sie mir aufgeladen habe, ihn befreien wird.

    Das Licht ist grell. Ich fühle mich wie eine Gans im Ofen. Heiß, gerupft und beobachtet. Warum habe ich mich bloß darauf eingelassen? Habe ich tatsächlich zugestimmt?
    »Können Sie etwas sagen, damit ich einen Soundcheck machen kann?« Anthony hockt hinter einem schwarzen Gegenstand. Eine Videokamera, nehme ich an.
    »Was soll ich denn sagen?« Eine Stimme, die nicht meine ist.
    »Noch einmal, bitte.«
    »Ich fürchte, ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll.«
    »Gut.« Anthony tritt hinter der Kamera hervor. »Das reicht.«
    Ich rieche die Zeltplane, die in der Mittagshitze schmort.
    »Ich habe mich so auf das Gespräch mit Ihnen gefreut«, sagt er strahlend. »Sylvia sagt, Sie haben früher in dem großen Haus gearbeitet.«
    »Ja.«
    »Sie brauchen sich nicht zum Mikrofon vorzubeugen. Das Gerät nimmt Ihre Stimme auch so auf.«
    Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich mich vorgebeugt hatte, und lehne mich zurück mit dem Gefühl, getadelt worden zu sein.
    »Sie haben auf Riverton gearbeitet.« Es ist eine Feststellung, keine Frage, doch ich komme nicht gegen das Bedürfnis an, meiner Aufgabe so exakt wie möglich nachzukommen.
    »Ich habe 1914 als Dienstmädchen dort angefangen.«
    Er wird verlegen, warum, weiß ich nicht. »Ja, nun …« Hastig stellt er seine Frage: »Sie haben für Theodore Luxton gearbeitet?« Er spricht den Namen vorsichtig aus, als könnte, wenn er Teddys Geist ruft, etwas von dessen Schande auf ihn abfärben.

    »Ja.«
    »Hervorragend! Hatten

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