Geheime Spiel
übermitteln. Der Brief verrät uns, so hoffen wir, den Aufenthaltsort von Emmeline, die verschwunden ist. Ein Skandal ist zu befürchten. Ich bin eine der wenigen, denen man vertraut.
Der Anruf kam vor drei Tagen aus Riverton. Emmeline hatte das Wochenende bei Freunden der Familie auf
einem Landgut in Oxfordshire verbracht. Auf dem Weg zur Kirche ist sie ihnen entwischt. Ein Auto hatte auf sie gewartet. Es war alles genau geplant. Es heißt, ein Mann sei im Spiel.
Ich freue mich über den Brief – ich weiß, wie wichtig es ist, dass wir Emmeline finden –, aber ich bin auch aus einem anderen Grund aufgeregt. Ich treffe mich heute Abend mit Alfred. Zum ersten Mal seit jenem nebligen Abend vor Monaten. Als er mir die Adresse von Lucy Starling gegeben hat, als er mir gesagt hat, wie sehr er mich mag, und als er mich am späten Abend nach Hause begleitet hat. Seitdem haben wir uns noch häufiger geschrieben (sogar richtige Liebesbriefe), und jetzt, endlich, werden wir uns wiedersehen. Wir werden uns richtig verloben. Alfred kommt nach London. Er hat Geld gespart und zwei Eintrittskarten für Princess Ida gekauft. Es ist ein Theaterstück. Mein erstes. Wenn ich für Hannah Besorgungen machen muss, komme ich auf dem Weg über den Haymarket manchmal an Plakaten vorbei, auf denen ein Theaterstück angekündigt wird, aber ich habe bisher noch nie eins gesehen.
Es ist mein Geheimnis. Ich sage Hannah nichts davon – sie ist mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt – und auch nicht den anderen Bediensteten in Nummer siebzehn. In dem unfreundlichen Klima, das Mrs Tibbit pflegt, sind alle immer nur darauf aus, sich bei jeder noch so kleinen Gelegenheit über die anderen lustig zu machen. Einmal, als Mrs Tibbit sah, wie ich einen Brief las (Gott sei Dank von Mrs Townsend und nicht von Alfred!), bestand sie darauf, dass ich ihn ihr zeige. Sie meinte, es sei ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass die unteren Chargen (untere Chargen!) sich anständig benehmen und keine unschickliche Liaison eingehen, die der Hausherr nicht gutheißen könne.
In gewisser Hinsicht hat sie recht. Teddy ist den Bediensteten gegenüber in letzter Zeit sehr streng. Es gibt geschäftliche Probleme, und obwohl er eigentlich nicht jähzornig ist, scheint es doch, dass selbst ein Mann von sanftem Charakter ziemlich aus der Haut fahren kann, wenn man es zu weit treibt. Er hat neuerdings ständig Angst vor Bakterien und nimmt es mit der Hygiene sehr genau. Seit einiger Zeit stellt er uns allen sogar Mundwasser zur Verfügung und besteht darauf, dass wir es benutzen; eine Angewohnheit, die er von seinem Vater übernommen hat.
Deswegen dürfen die anderen Bediensteten auf gar keinen Fall etwas von der Sache mit Emmeline erfahren. Irgendeiner würde garantiert petzen in der Hoffnung, sich dadurch in ein gutes Licht zu rücken.
Beim Haus angekommen, gehe ich schnell durch den Dienstboteneingang, um nicht von Mrs Tibbit bemerkt zu werden.
Hannah wartet in ihrem Zimmer auf mich. Sie ist blass, seit sie letzte Woche den Anruf von Mr Hamilton erhalten hat. Als ich ihr den Brief gebe, reißt sie ihn sofort auf und überfliegt den Inhalt. Atmet erleichtert auf. »Sie haben sie gefunden«, sagt sie ohne aufzublicken. »Es geht ihr gut, Gott sei Dank.«
Sie liest weiter, holt tief Luft, schüttelt den Kopf. »Ach, Emmeline«, murmelt sie. »Emmeline.«
Nachdem sie den Brief zu Ende gelesen hat, legt sie ihn neben sich und schaut mich an. Presst nickend die Lippen zusammen. »Sie muss sofort von dort weggeholt werden, ehe es zu spät ist.« Sie steckt den Brief zurück in den Umschlag. Ungeduldig, hastig, sodass das Papier zerknittert. So ist sie schon seit einer ganzen Weile, seit sie diese Spiritistin aufgesucht hat: nervös und angespannt.
»Sofort, Ma’am?«
»Auf der Stelle. Sie ist ja schon seit drei Tagen fort.«
»Soll ich den Chauffeur bitten, den Wagen vorzufahren? «
»Nein«, antwortet Hannah hastig. »Nein. Ich kann nicht riskieren, dass jemand etwas davon erfährt.« Sie meint Teddy und dessen Familie. »Ich fahre selbst.«
»Ma’am?«
»Sieh mich doch nicht so verdattert an, Grace. Mein Vater hat Automobile hergestellt. Es ist überhaupt nichts dabei.«
»Soll ich Ihre Handschuhe und Ihren Schal bringen, Ma’am?«
Sie nickt. »Und für dich selbst auch.«
»Für mich, Ma’am?«
»Du kommst doch mit, oder?«, fragt Hannah und schaut mich mit großen Augen an. »Zu zweit haben wir bessere Aussichten, sie zu retten.«
Wir. Eins der
Weitere Kostenlose Bücher