Geheime Spiel
Erinnerung existieren sollten, nur noch verschwommen erkennbar durch den Nebel der folgenden Ereignisse. Fotos zwingen uns, Menschen zu einem Zeitpunkt zu sehen, bevor sie von der Zukunft niedergedrückt werden, bevor sie ihr eigenes Ende kennen.
Auf den ersten Blick sind sie ein Schaum aus weißen Gesichtern und Röcken in einem Sepiameer, doch das Wiedererkennen lässt schließlich einzelne Bilder gestochen scharf hervortreten. Das erste ist das Sommerhaus, das Teddy entworfen und 1924 hat bauen lassen. Nach den Personen im Vordergrund zu urteilen, muss das Foto im selben Jahr aufgenommen worden sein. Teddy steht neben der noch unfertigen Eingangstreppe an eine
der weißen Marmorsäulen gelehnt. Auf dem Rasen vor dem Haus ist eine Picknickdecke ausgebreitet. Hannah und Emmeline sitzen nebeneinander darauf. Beide mit demselben, entrückten Blick. Deborah steht im Vordergrund, groß, aber modisch krumm, eine dunkle Haarsträhne über einem Auge. Sie hält eine Zigarette in der Hand. Der aufsteigende Qualm wirkt wie Dunst. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass sich noch eine fünfte Person auf dem Foto befindet, hinter diesem Dunst verborgen. Aber natürlich gibt es keine fünfte Person. Es gibt es kein einziges Foto von Robbie auf Riverton. Er war nur zweimal dort.
Das zweite Foto zeigt Riverton selbst, oder das, was davon übrig war, nachdem kurz vor dem Zweiten Weltkrieg das Feuer darin gewütet hatte. Der gesamte linke Flügel ist verschwunden, als hätte ein riesiger Bagger das Kinderzimmer, den Speisesaal, den Salon und die Schlafzimmer einfach weggeschaufelt. Der Rest des abgebrannten Hauses ist schwarz. Es heißt, es hätte noch wochenlang geraucht, und der Geruch nach Ruß hätte monatelang über dem Dorf gelegen. Ich weiß nichts darüber. Zu der Zeit stand der Zweite Weltkrieg bevor, Ruth war geboren, und ich war dabei, mir eine neue Existenz aufzubauen.
Bei dem dritten Foto sträubt sich meine Erinnerung, weigert sich, ihm seinen Platz in der Geschichte zuzuweisen. Die Personen auf dem Bild sind leicht zu erkennen, ebenso die Tatsache, dass sie sich für eine Party feingemacht haben. Damals gab es so viele Partys, und es wurde sich ständig herausgeputzt und für Fotos aufgestellt. Es könnte irgendeine beliebige Party gewesen sein. Aber nein. Ich weiß, wo das Foto aufgenommen wurde, und ich weiß, was den abgebildeten Menschen bevorsteht. Ich erinnere mich gut an ihre Kleidung. Ich erinnere
mich an das Blut, an den großen, roten Fleck auf dem hellen Kleid, der es so aussehen ließ, als wäre ein Fass rote Tinte aus großer Höhe daraufgefallen. Es ist mir nie gelungen, den Fleck ganz zu entfernen, und letztendlich spielte es auch keine Rolle. Ich hätte das Kleid einfach wegwerfen sollen. Sie hat es nie wieder angesehen und erst recht nie wieder getragen.
Auf diesem Foto ahnen sie noch nichts. Sie lächeln. Hannah und Emmeline und Teddy. Lächeln in die Kamera. Das ist vorher. Ich betrachte Hannahs Gesicht, suche darauf nach einem Anzeichen für das bevorstehende Unheil. Natürlich finde ich keins. Wenn überhaupt, sehe ich Vorfreude in ihren Augen. Aber es kann sein, dass ich mir das nur einbilde, weil ich weiß, dass sie so empfand.
Jemand steht hinter mir. Eine Frau. Sie reckt den Hals vor, um dasselbe Foto zu betrachten.
»Zum Schießen, nicht wahr?«, sagt sie. »Diese albernen Kleider, die sie damals getragen haben. Eine ganz andere Welt.«
Nur ich sehe den Schatten über ihren Gesichtern. Das Wissen um das, was ihnen bevorsteht, legt sich kalt auf meine Haut. Nein, es ist nicht das Wissen. Mein Bein schmerzt, wo ich es mir gestoßen habe, etwas Kaltes läuft mir in den Schuh.
Jemand tippt mir auf die Schulter. »Dr. Bradley?« Ein Mann beugt sich zu mir vor, sein freudestrahlendes Gesicht kommt mir zu nah. Er nimmt meine Hand. »Grace? Darf ich Sie so nennen? Es ist mir eine große Freude, Sie kennenzulernen. Sylvia hat mir so viel von Ihnen erzählt. Es ist mir wirklich eine Ehre.«
Wer ist der Mann, der so laut und betont langsam mit mir spricht? Der meine Hand so energisch schüttelt? Was hat Sylvia ihm von mir erzählt? Und warum?
»… ich unterrichte Englisch, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber meine Leidenschaft ist die Heimatkunde. Ich glaube, ich darf mich mit Fug und Recht als einen großen Kenner auf diesem Gebiet bezeichnen. «
Sylvia tritt durch den Zelteingang, einen Styroporbecher mit Tee in der Hand. »Hier, Ihr Tee.«
Tee. Endlich. Ich
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