Geheime Spiel
mehr wie früher. Nicht, seit du fort bist.«
Während ich noch über seine letzte Bemerkung nachdachte, sagte er: »Ach ja«, und langte mit der Hand in die Hosentasche. »Apropos Riverton. Du wirst nie erraten,
wer mir über den Weg gelaufen ist, als ich auf dich gewartet habe.«
»Wer denn?«
»Miss Starling. Lucy Starling. Mr Fredericks ehemalige Sekretärin.«
Seine Worte versetzten mir einen Stich. Dass er sie ganz vertraut beim Vornamen nannte. Lucy. Ein irgendwie schlüpfriger, geheimnisvoller Name, der wie Seide knisterte. »Miss Starling? Hier in London?«
»Sie sagt, sie wohnt jetzt hier. In einer Wohnung auf der Hartley Street, gleich um die Ecke.«
»Aber was macht sie denn hier?«
»Arbeiten. Nachdem Mr Fredericks Firma dichtgemacht wurde, musste sie sich eine neue Stelle suchen, und davon gibt’s hier in London mehr als genug.« Er reichte mir einen Zettel. Weiß, warm, ganz zerknittert, weil er ihn in seiner Hosentasche aufbewahrt hatte. »Ich hab sie um ihre Adresse gebeten und gesagt, ich würde sie dir geben.« Er lächelte mich auf eine Weise an, die mich erneut erröten ließ. »Dann schlafe ich ruhiger«, sagte er, »wenn ich weiß, dass du in London eine Freundin hast.«
Ich fühle mich ganz matt. Meine Gedanken schwimmen. Hin und her, vor und zurück auf den Gezeiten meiner Erinnerung.
Das Gemeindehaus. Vielleicht ist Sylvia dort. Und dort wird es Tee geben. Die Frauen vom Festkomitee haben bestimmt schon alles vorbereitet und verkaufen Kuchen und Muffins und wässrigen Tee mit Holzstäbchen zum Umrühren anstelle von Löffeln. Mühsam arbeite ich mich zu den Stufen vor dem Eingang vor.
Ich hebe den Fuß, schätze die Stufe falsch ein, rutsche ab, schlage mit dem Knöchel gegen die Kante der Betontreppe.
Jemand packt mich am Arm. Ein junger Mann mit dunkler Haut, grünen Haaren und einem Ring in der Nase.
»Alles in Ordnung?«, fragt er mit weicher, sanfter Stimme.
Ich starre seinen Nasenring an, finde keine Worte.
»Sie sind ja kreidebleich, meine Liebe. Sind Sie allein hier? Soll ich jemanden rufen?«
»Da sind Sie ja!« Eine Frauenstimme. Eine, die ich kenne. »Einfach so davonzulaufen! Ich dachte schon, Sie wären mir verloren gegangen.« Sie schnalzt mit der Zunge wie eine alte Glucke und stemmt die Fäuste in die Hüften. Ihre Arme sehen dabei aus wie fleischige Flügel. »Was in aller Welt haben Sie sich dabei gedacht ?«
»Ich hab sie hier gefunden«, sagt Grüne Haare. »Sie wäre beinahe die Treppe raufgefallen.«
»Also, das ist doch nicht zu fassen«, sagt Sylvia. »Kaum drehe ich Ihnen den Rücken zu! Sie bringen mich noch mal um den Verstand! Ich weiß wirklich nicht, was in Sie gefahren ist.«
Ich fange an, es ihr zu erklären, höre wieder auf. Ich kann mich nicht erinnern. Irgendwie ist mir, als hätte ich nach etwas gesucht, als hätte ich etwas Bestimmtes tun wollen.
»Kommen Sie«, sagt sie, fasst mich an den Schultern und führt mich nach draußen. »Anthony kann es gar nicht erwarten, Sie kennenzulernen.«
Das Zelt ist groß und weiß. Eine Hälfte der Leinwand am Eingang ist zurückgeschlagen, damit man eintreten kann. Über dem Eingang hängt ein Stoffschild mit der handgemalten Aufschrift: Saffron Green Historical Society . Sylvia schiebt mich ins Zelt. Es ist heiß und riecht nach frisch gemähtem Gras. Unter dem Dach hängt
eine Neonröhre, die leise summend ihr klinisch kaltes Licht auf die Plastiktische und -stühle wirft.
»Der da ist es«, flüstert Sylvia und deutet auf einen Mann, der ein derartiges Allerweltsgesicht hat, dass er mir irgendwie bekannt vorkommt. Braunes, grau meliertes Haar, grau melierter Bart, rot geäderte Wangen. Er ist mit einer matronenhaften, konservativ gekleideten Frau ins Gespräch vertieft. Sylvia beugt sich zu mir. »Ich hab Ihnen ja gesagt, dass er sehr sympathisch ist.«
Ich schwitze, und mir tun die Füße weh. Ich bin verwirrt. Plötzlich der unwiderstehliche Drang, mich bockig zu zeigen. »Ich möchte eine Tasse Tee.«
Sylvia sieht mich an, versucht, ihre Verwunderung zu verbergen. »Aber selbstverständlich, meine Liebe. Ich hole Ihnen eine, und dann hab ich noch eine Überraschung für Sie. Kommen Sie, setzen Sie sich.« Sie bugsiert mich zu einer Bank neben einem mit Sackleinen bespannten Brett, setzt mich ab und verschwindet.
Die Fotografie ist eine grausame, paradoxe Kunst. Sie zerrt eingefangene Momente in die Zukunft, Momente, die in der Vergangenheit hätten verpuffen sollen, die nur in der
Weitere Kostenlose Bücher