Geheime Spiel
schaffen werde. Ursula scheint das auch zu denken.
»Ich bringe Ihnen so bald wie möglich eine Kopie des Films auf Video«, sagt sie.
»Das würde mir gefallen.«
Sie biegt in die Auffahrt zum Heim ein. »Oje, oje«, sagt sie mit großen Augen. Sie legt ihre Hand auf meine. »Auf in den Kampf.«
Ruth steht schon da und wartet. Ich rechne damit, dass sie den Mund missbilligend verzieht. Aber nein. Sie lächelt. Fünfzig Jahre lösen sich auf, und ich sehe sie als kleines Mädchen. Bevor das Leben die Möglichkeit hatte, sie zu enttäuschen. Sie hält etwas in der Hand und winkt damit. Ich stelle fest, dass es sich um einen Brief handelt. Und ich weiß, von wem er ist.
Losgelöst
E r ist hier. Marcus ist nach Hause gekommen. Seit einer Woche besucht er mich jeden Tag. Manchmal kommt Ruth mit; aber oft sind wir beide auch allein. Wir unterhalten uns nicht immer. Manchmal sitzt er einfach nur neben mir und hält meine Hand, während ich döse. Ich habe es gern, wenn er meine Hand hält. Es ist die freundlichste aller Gesten: ein Trost von Kindheit an bis ins hohe Alter.
Mit mir geht es zu Ende. Niemand hat es mir gesagt, aber ich kann es ihnen an den Gesichtern ablesen. An ihren freundlichen, sanften Mienen, an den traurig lächelnden Augen, an ihren flüsternden Stimmen, an den verstohlenen Blicken, die sie austauschen. Und ich spüre es selbst.
An der Beschleunigung.
Ich gleite aus der Zeit heraus, wie losgelöst. Die zeitlichen Begrenzungen, an denen ich mich ein Leben lang orientiert habe, werden plötzlich bedeutungslos: Sekunden, Minuten, Stunden, Tage. Das sind nur noch Wörter. Alles, was mir bleibt, sind Augenblicke.
Marcus hat ein Foto mitgebracht. Als er es mir hinhält, weiß ich schon, bevor ich es genau sehen kann, welches es ist: eins meiner Lieblingsfotos, aufgenommen vor vielen
Jahren bei einer archäologischen Ausgrabung. »Wo hast du das denn gefunden?«, frage ich.
»Ich hatte es bei mir«, erwidert er verlegen und fährt sich mit der Hand durch seine ziemlich langen, von der Sonne gebleichten Haare. »Die ganze Zeit, als ich fort war. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel.«
»Es freut mich«, beruhige ich ihn.
»Ich wollte ein Foto von dir. Das hier hat mir immer besonders gut gefallen, als ich noch klein war. Du siehst so glücklich darauf aus.«
»Das war ich auch. Sehr glücklich sogar.« Ich betrachte das Foto noch einmal, dann gebe ich es ihm zurück. Er stellt es so auf meinen Nachttisch, dass ich es anschauen kann, wann immer ich möchte.
Ich habe ein bisschen gedöst, und als ich aufwache, steht Marcus am Fenster und blickt hinaus auf die Heidelandschaft. Zuerst habe ich das Gefühl, dass Ruth mit uns im Zimmer ist, aber sie ist es nicht. Es ist jemand anders. Etwas anderes. Sie ist vor einer Weile erschienen. Und seitdem ist sie da. Niemand außer mir kann sie sehen. Ich weiß, dass sie auf mich wartet, und ich bin bald bereit. Heute Morgen habe ich die letzte Kassette für Marcus besprochen. Jetzt ist alles gesagt und getan. Das Versprechen, das ich gegeben habe, ist gebrochen, und er wird mein Geheimnis erfahren.
Marcus spürt, dass ich aufgewacht bin. Er dreht sich zu mir um. Lächelt. Sein wunderbares breites Lächeln. »Grace.« Er tritt vom Fenster an mein Bett. »Soll ich dir etwas bringen? Vielleicht ein Glas Wasser?«
»Ja, bitte«, erwidere ich.
Ich sehe ihm zu: seine schlanke Gestalt in den lässigen Kleidern: Jeans und T-Shirt, die Uniform der heutigen Jugend. In seinem Gesicht entdecke ich noch den
kleinen Jungen von damals, das Kind, das mir von Zimmer zu Zimmer folgte, mir Fragen stellte, Geschichten hören wollte: über die Orte, an denen ich gewesen war, die Gegenstände, die ich ausgegraben hatte, das große Haus auf dem Hügel und die Kinder mit ihrem SPIEL. Ich sehe den jungen Mann vor mir, der mir eine große Freude bereitete, als er verkündete, er wolle Schriftsteller werden. Der mich bat, einige seiner Arbeiten zu lesen und ihm zu sagen, was ich davon hielte. Und ich sehe den erwachsenen Mann vor mir, der im Kummer gefangen ist, hilflos. Nicht bereit, sich helfen zu lassen.
Ich mache es mir etwas bequemer, räuspere mich. Es gibt etwas, das ich ihn fragen muss. »Marcus?«, sage ich.
Er schaut mich von der Seite an, eine braune Locke in der Stirn. »Grace?«
Ich mustere seine Augen, in der Hoffnung, dass er mir die Wahrheit sagt. »Wie geht es dir?«
Erfreulicherweise weicht er mir nicht aus. Er setzt sich hin, rückt meine Kissen
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