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Geheime Spiel

Geheime Spiel

Titel: Geheime Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Morton
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Tag verrichtete, und ich kann gar nicht sagen, was an jenem Tag anders war. Warum an dem Tag, als ich mir die linke Schublade vornahm, meine Finger erst langsamer wurden, um dann ganz ihren Dienst zu verweigern. Als hätten sie, noch ehe es mir selbst bewusst war, gespürt, wonach es mich verlangte.
    Einen Moment lang saß ich wie versteinert auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch und nahm die Geräusche um mich herum verstärkt wahr. Den Wind draußen, die
Zweige, die gegen die Fensterscheiben schlugen. Die Uhr auf dem Kaminsims, die unerbittlich die Sekunden zählte. Meinen eigenen Atem, der immer schneller ging.
    Mit zitternden Fingern zog ich die Schublade auf, ganz langsam und vorsichtig, und beobachtete mich gleichzeitig selbst dabei. Als die Schublade zur Hälfte draußen war, kippte sie leicht, und ihr Inhalt rutschte nach vorne.
    Ich hielt den Atem an. Lauschte. Vergewisserte mich, dass ich noch immer allein war. Dann lugte ich in die Schublade.
    Dort, unter Schreibzeug und einem Paar Handschuhen, lag Lady Violets Familienalbum.
    Zum Zögern blieb mir keine Zeit. Mit pochendem Herzen nahm ich das Album heraus und legte es auf den Boden.
    Blätterte die Seiten durch – Fotos, Einladungen, Speisekarten, Tagebucheintragungen – auf der Suche nach Daten. 1896, 1897, 1898 …
    Da war es – das Familienfoto von 1899, die Gruppierung der Familie auf dem Foto war mir vertraut, aber die Anzahl der abgebildeten Personen war ungewohnt. Zwei lange Reihen von ernst dreinblickenden Dienstboten hinter den Familienangehörigen. Lord und Lady Ashbury, der Major in Uniform, Mr Frederick – so viel jünger und so viel weniger vom Leben gezeichnet –, Jemima und eine mir unbekannte Dame, die ich für Mr Fredericks verstorbene Frau Penelope hielt, beide hochschwanger. Eins der beiden Kinder, die bald zur Welt kommen würden, musste Hannah gewesen sein, das andere ein glückloser Junge, dessen Blut ihn eines Tages im Stich lassen würde. Ein einzelnes Kind stand am Ende der Reihe neben Nanny Brown (die damals schon uralt war). Ein kleiner blonder Junge: David. Voller Leben
und Hoffnung, nicht ahnend, was die Zukunft für ihn bereithielt.
    Ich ließ meinen Blick von Gesicht zu Gesicht wandern, erst zur Familie, dann zu den Bediensteten in den hinteren Reihen. Mr Hamilton, Mrs Townsend, Dudley …
    Mir stockte der Atem, als ich plötzlich in die Augen eines jungen Dienstmädchens schaute. Sie war unverwechselbar. Nicht, weil sie meiner Mutter ähnelte – im Gegenteil. Nein, sie ähnelte mir. Die Haare und die Augen waren dunkler, aber die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Der gleiche lange Hals, das Grübchen im Kinn, die geschwungenen Brauen, die ihr einen Ausdruck der Entschlossenheit verliehen.
    Was mich jedoch noch weit mehr überraschte als die Ähnlichkeit, war etwas ganz anderes: Meine Mutter lächelte. Oh, es war kein Lächeln, das einem aufgefallen wäre, wenn man sie nicht gut gekannt hätte. Es war auch kein fröhliches oder grüßendes Lächeln. Es war kaum wahrnehmbar, kaum mehr als ein Muskelzucken, das man leicht für einen Tick hätte halten können, wenn man sie nicht kannte. Aber ich sah es. Meine Mutter lächelte still vor sich hin. Wie eine Frau, die ein Geheimnis hütet …
     
    Bitte entschuldige die Unterbrechung, Marcus, aber ich habe Besuch bekommen. Ich saß gerade hier, bewunderte die Gartennelken und erzählte dir von meiner Mutter, als es an der Tür klopfte. Ich dachte, es wäre Sylvia, die gekommen war, um mir von ihrem Freund zu erzählen oder sich über ein paar von den anderen Bewohnern des Seniorenheims zu beklagen, aber sie war es nicht. Es war Ursula, die Filmemacherin. Ich habe sie doch schon einmal erwähnt, nicht wahr?
    »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte sie.

    »Nein«, antwortete ich und legte meinen Walkman beiseite.
    »Ich werde auch nicht lange bleiben. Aber ich war gerade in der Gegend, und ich dachte, ich schaue mal kurz vorbei, bevor ich nach London zurückfahre.«
    »Sie waren im Haus.«
    Sie nickte. »Wir haben eine Szene im Park gedreht. Das Licht war einfach perfekt.«
    Ich erkundigte mich nach der Szene, neugierig zu erfahren, welchen Teil der Geschichte sie heute nachgestellt hatten.
    »Es war eine Liebesszene«, sagte sie. »Etwas Romantisches. Eine meiner Lieblingsszenen.« Sie errötete, schüttelte dabei den Kopf so heftig, dass ihr Pony hin und her schwang wie ein Vorhang. »Es ist verrückt. Ich habe den Text geschrieben, ich kannte den Dialog schon, als er nur

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