Geheime Tochter
sein Stamm ragt stolz in die Höhe. Dennoch, ihre nächsten Worte bleiben ihr fast im Hals stecken.
»Kann er sich an mich erinnern? Glaubst du, dass er weiß, wer ich bin, wenn ich komme?«
Eine lange Pause tritt ein, ehe Rupa antwortet. »Ja, Kavi, ganz bestimmt. Kann ein Vater je seine Tochter vergessen?«
Kavita drückt die Finger in die Schale der kleinen Mango, um zu testen, wie fest das Fleisch ist, hält sich dann die Frucht an die Nase. »Ein halbes Kilo von denen, bitte.« Memsahib hat heute Morgen nach dem Aufstehen frisches Mango-Pickle verlangt, daher hat Bhaya Kavita nach dem Mittagessen losgeschickt, die besten grünen Mangos zu besorgen, die sie finden kann. Sie war auf drei verschiedenen Märkten und jetzt ist sie mindestens einehalbe Stunde von Memsahibs Wohnung entfernt, aber egal – alle werden noch ruhen, wenn sie zurückkommt. Kavita geht mit schnellen Schritten, bis sie an dem Eisentor ankommt, bleibt dann stehen und stellt den Stoffbeutel mit den Mangos zu ihren Füßen ab. Sie blickt durch die rostigen Stäbe des Tors, stellt sich sogar auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Sie weiß natürlich, dass es sinnlos ist. Selbst wenn Usha noch lebt, wäre sie inzwischen eine erwachsene Frau, älter als Vijay. Sie wäre auf keinen Fall mehr in diesem Waisenhaus. Also wonach suche ich hier, wieso zieht es mich immer noch hierher?
Will sie vielleicht den Schmerz heraufbeschwören, den sie an dem Tag empfand, als sie ihre Tochter weggab, sich selbst dafür bestrafen, dass sie ihr eigen Fleisch und Blut im Stich gelassen hat? Was für ein Leben könnte das Mädchen haben? Keine Familie, aufgezogen von Fremden, kein Zuhause, wohin sie gehen konnte, als sie das Waisenhaus verlassen musste. War es besser? Besser für mich, ihr bloß das Leben gegeben zu haben und nichts anderes, was eine Mutter ihrem Kind geben sollte? Oder kommt sie einfach deshalb noch immer her, weil es ihr zur Gewohnheit geworden ist, eine in ihre Haut eingekerbte Narbe, an die sie immerzu denken muss, an der sie kratzen und knibbeln muss, während sie die ganze Zeit hofft, dass sie eines Tages wie durch ein Wunder heilt?
47
Nur ein einziges Mal
Mumbai, Indien – 2005
Asha
Asha spürt ihr Herz schneller schlagen, als der Zug rumpelnd im Bahnhof Churchgate einfährt. Er wirbelt die staubige Luft durcheinander und setzt den hartnäckigen Uringestank der dampfenden Erde frei. Es stinkt erbärmlich, aber sie kann nur daran denken, wohin der Zug sie bringen wird. Sie macht auf dem Bahnsteig ein paar Schritte nach vorn, ein Bündel Rupienscheine sicher in ihrem Geldgürtel verstaut. In ihrem Rucksack, den sie seit dem Flug hierher nicht mehr benutzt hat, befinden sich nun ihr Notizbuch, ein Stadtplan und eine Erste-Klasse-Fahrkarte – nur so kann eine junge Frau ohne Begleitung in Indien sicher reisen, wie Dadima behauptet hat.
Vor seinem Rückflug in die Staaten hat ihr Vater ihr die einzigen Informationen gegeben, an die er sich erinnern konnte, den Namen der Adoptionsagentur und der Mitarbeiterin, die damals für sie zuständig war. Als Asha bei der Agentur anrief, wurde sie an das Waisenhaus verwiesen. Dadima gab ihr die Adresse vom Waisenhaus und den Namen des Direktors, Arun Deshpande. Sie schrieb ihn in Ashas Notizbuch, und zwar auf Englisch, Hindi und Marahti, nur für alle Fälle. Dadima bot sich an, sie zu begleiten, aber Asha wollte das allein machen. Sie setzt sich auf ihren Platz im Zug, holt den Silberreif aus der Tasche und hält ihn die ganze Fahrt über in der Hand. Alssie aus dem Zug steigt, geht sie an die Spitze der Rikscha-Schlange, wo sie dem Fahrer ihr Notizbuch mit der Adresse des Waisenhauses zeigt. Er nickt, spuckt Betelnuss-Saft aufs Pflaster und tritt mit unglaublich dünnen, muskulösen Beinen in die Pedalen.
Das Waisenhaus sieht anders aus, als Asha erwartet hat, ein lang gestrecktes, zweigeschossiges Gebäude mit Spielflächen für die Kinder rundherum. Sie bleibt kurz vor dem draußen angebrachten, auf Englisch beschrifteten Schild stehen:
KINDERHEIM SHANTI
GEGR. 1980
WIR DANKEN DER FAMILIE THAKKAR
FÜR DIE GROSSZÜGIGE UNTERSTÜTZUNG UNSERER
NEUEN EINRICHTUNG
Thakkar? Wie sie seit ihrer Ankunft in Indien gelernt hat, gibt es in Mumbai Tausende Thakkars. Es ist eine nette Abwechslung, den Namen nicht jedes Mal buchstabieren zu müssen. Sie klingelt am Vordereingang, und eine alte Frau mit runzeligem Mund kommt herausgeschlurft. »Ich möchte zu Arun Deshpande.« Asha spricht
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