Geheime Tochter
Söhne …«
Asha blickt ihre Großmutter an, sieht ihre müden Augen. » Pandit-ji , bei allem Respekt, das ist Familiensache. Wir haben uns entschieden.«
Bei ihrer Ankunft haben sich bereits Hunderte Menschen zur Zeremonie versammelt. Es sind auch zahllose Krankenhausmitarbeiter in ihren Arbeitskitteln dabei. Asha sieht Nimish und andere Cousins und Cousinen, ihre Onkel und weitere Angehörige, die sie im Laufe des Sommers kennengelernt hat. Sanjay steht neben seinem Vater, die Augen so gerötet wie ihre. Sie erkennt viele Nachbarn aus dem Wohnhaus und sogar den Gemüsehändler, der jeden Tag zu ihnen an die Tür kommt. Neil und Parag von der Zeitung sind da. Die meisten Trauernden begrüßen sie mit gesenktem Kopf und zum namaste zusammengelegten Händen, und etliche von ihnen bücken sich, um Dadimas Füße zu berühren, was als höchste Respekterweisung gilt.
Der Holzstapel ist fast so hoch wie Asha, und oben drauf liegt Dadajis Leichnam in ein weißes Tuch gewickelt. Asha tritt neben den pandit und schaut aufmerksam zu, als der Priester anfängt zu singen und zu chanten. Er taucht die Finger in Gefäße mit heiligem Wasser, Reiskörnern und Blütenblättern, streut alles über den Scheiterhaufen und bedeutet ihr, es ihm gleichzutun. Schon bald wirkt sich der gleichmäßige Rhythmus des Sprechgesangs des pandit beruhigend auf sie aus, und sie nimmt die vielen Leute um sie herum weniger wahr.
Der pandit winkt Ashas Onkeln, und sie treten vor. Er spricht leise und legt Puffreis, Weihrauchstäbchen und ein Töpfchen ghee in ihre geöffneten Hände. Ihre Onkel gehen um den Scheiterhaufen herum und bringen Dadajis Leichnam Opfergaben dar. Als sie ihn einmal umkreist haben, stellen sie sich wieder neben Dadima.
Schließlich sagt der pandit ein paar Worte auf Gujarati zu Asha und deutet auf die Flamme, die in der Öllampe brennt. Asha blickt in Dadimas faltiges Gesicht, in ihre feuchten Augen, und tritt dann vor. Sie nimmt die zusammengebundenen Zweige von der Öllampe. Wie der pandit ihr gesagt hat, umkreist sie den Scheiterhaufen dreimal und hält schließlich die Flamme an das Ende des Stapels. Mit zitternden Händen wartet sie, bis das Holz Feuer fängt.
Asha tritt zurück neben Dadima und schaut zu, wiedie Flammen langsam den Scheiterhaufen einhüllen und endlich die in das weiße Tuch gehüllte Gestalt ihres Großvaters erfassen. Durch das lodernde Feuer hindurch sieht sie die Gesichter ihrer Cousinen und Onkel. Meine Familie . Nur ihr Vater fehlt, aber sie weiß, dass er sie genau hier würde haben wollen. Irgendwann ist die Familie, die du gründest, wichtiger als die, in die du hineingeboren wurdest , hat er zu ihr gesagt. Asha ergreift Dadimas knotige Hand und hält sie ganz fest, während ihr die Tränen übers Gesicht rollen.
54
Ungewöhnlich ruhig
Dahanu, Indien – 2005
Kavita
»Hast du hiervon gewusst?«, fragt Kavita, in der Hand eine abgegriffene Stardust – Ausgabe von 1987.
»Nein. Was wollte Ba denn damit? Sie konnte doch gar nicht lesen.«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat sie sich gern die Fotos angeschaut?« Kavita blättert die alte Filmzeitschrift durch. » Arre! Sieh dir bloß mal die Klamotten an, so altmodisch. Meine Güte.«
Rupa geht zu Kavita hinüber, stellt sich auf die Zehenspitzen und lugt in den Metallschrank, den Kavita durchstöbert hat. » Bhagwan! Das müssen ja Hunderte sein!« Sie lacht und nimmt einen mit einer Kordel zusammengebundenen Stapel Zeitschriften heraus.
»Ich kann nicht glauben, dass sie Geld für Zeitschriften ausgegeben hat, und noch dazu Bollywood-Magazine. Unsere sparsame Mutter, die jedes Zuckerkörnchen aufgelesen hat. Warum sie die wohl alle verwahrt hat?«, wundert sich Kavita.
»Wer hätte gedacht, dass Ba ein heimlicher Filmfan war?« Rupa stapelt die Zeitschriften auf dem Bett neben den Saris ihrer Mutter.
»Ach, Lachen tut gut. Ich habe das Gefühl, als hätte ich nur geweint, seit ich hier bin.« Kavita lächelt ihre Schwester kläglich an, hat schon wieder Gewissensbisse.
» Hahnji . Es war schwer heute Morgen, was? Bapu da zu sehen?« Rupa meint die Einäscherungszeremonie, die mitten im Dorf stattgefunden hat. Ihr Vater fiel auf die Knie und weinte, sobald er den Leichnam ihrer Mutter auf dem Scheiterhaufen liegen sah. Sein schwächlicher Körper wurde von hohlen Schreien geschüttelt. Niemand konnte ihn trösten. Der Anblick seiner hemmungslosen Trauer, seiner nackten Verzweiflung war mehr, als Kavita ertragen konnte. Sie wusste
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