Geheime Tochter
nicht, welcher Anblick ihr mehr das Herz zerriss – der umhüllte Leichnam ihrer Mutter oder ihr völlig aufgelöster Vater daneben. Kavita war froh, Jasu an ihrer Seite zu haben. Seine starken Arme stützten sie, während sie wie ein Kind schluchzte. Normalerweise trauern Frauen zu Hause, statt an einer Verbrennung teilzunehmen, doch die Schwestern konnten Bapu nicht allein hingehen lassen. Lange Zeit standen sie alle da und beobachteten das Feuer, bis die letzte Glut erloschen war. Der pandit füllte die Asche mit einer kleinen Schaufel in eine Tonurne, die er ihnen überreichte. Ihr Vater hatte, seit sie wieder zurück nach Hause kamen, weder gesprochen noch etwas gegessen. Als Kavita anschließend die Gäste umarmte und einige Worte mit ihnen wechselte, musste sie Vijays Abwesenheit immer wieder erklären, was sie so knapp wie möglich tat, obwohl sie am liebsten geschrien hätte: Nein, mein Sohn ist nicht hier, aber sein Geld – in den Ringelblumengirlanden, in dem Essen, das ihr euch schmecken lassen werdet.
»Mmm.« Kavita nickt. »Sehr schwer. Ich bin froh, dass er jetzt schläft. Vielleicht ist es ein Segen, dass er das Gedächtnis verliert. Vielleicht erinnert er sich an nichts mehr, wenn er aufwacht.«
»Leider ist das anscheinend der einzige Teil seines Gedächtnisses, der noch funktioniert, der mit den Erinnerungen an Ba. Ist eigentlich rührend«, sagt Rupa. »Überleg mal, als sie geheiratet haben, war Ba sechzehn und er achtzehn. Sie waren ein halbes Jahrhundert zusammen. Er kann sich wahrscheinlich gar nicht mehr an das Leben vor ihr erinnern.«
Kavita nickt beipflichtend. Sie kann die Worte nicht herausbringen, um ihrer Schwester zu antworten, weil ihr die Kehle erneut von Tränen zugeschnürt wird.
Das Wasser ist ungewöhnlich ruhig heute Morgen. Zarte Wellen tanzen kokett mit den ersten Strahlen des Tages auf der Oberfläche. Helle Streifen Sonnenlicht heben sich scharf von dem dunklen Wasser darunter ab, wie Goldfäden, die in einen dunklen Sari eingewebt sind. Kavita gräbt die Zehen in den glatten, feuchtkühlen Ufersand und versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, in diesen Wassertiefen zu treiben. Ganz unbeschwert zu sein, frei von den Sorgen und Verantwortungen des Lebens, sich einfach treiben zu lassen, weiter und weiter … und dann zu verschwinden.
Sie weiß, die Seele ihrer Mutter ist nicht mehr in der Asche, mit der die Tonurne neben ihr gefüllt ist, aber sie möchte glauben, dass ein Teil von ihr heute hier ist. Ihre Mutter würde sich über diesen friedlichen Morgen freuen. Kavita nimmt die Urne und legt die Hände um den breiten Sockel. »Ba«, sagt sie leise und lächelt dann, als ihr klar wird, dass es der Geist ihrer Mutter sein muss, der diesem Morgen seine Ruhe verleiht. Erst Jahre nachdem Kavita selbst Mutter geworden war, wurde ihr bewusst, wie sehr ihre eigene Mutter bei allem die Hand mit im Spiel hatte – dass sie im Stillen und mit Zielstrebigkeit in ihrer aller Leben die Fäden zog. Und der Einfluss ihrer Mutter dauert an, denkt Kavita, während siedie Urne im Schoß hält. Wenn die Mutter fällt, fällt die ganze Familie.
» Bena? « Rupa erscheint neben ihr, den Sari respektvoll über den Kopf gezogen. »Er sagt, es kann losgehen.« Sie deutet mit einer leichten Neigung des Kopfes zu dem Bootsführer, der neben seinem Floß steht, das auf dem Wasser dümpelt.
» Hahnji. Gehen wir.« Kavita steht ganz langsam auf, um die Urne ruhig zu halten. Sie gehen zu dem wartenden Bootsführer, der Ähnlichkeit mit einem Amphibiengeschöpf hat. Sein Körper, nackt bis auf einen Lendenschurz, den er um Hüften und Oberschenkel gewickelt hat, ist ledern von der Sonne. Er steht bis zur Taille im Wasser, fühlt sich an Land wie auf See gleichermaßen wohl. Er hat dünne, aber muskulöse Beine, gut geeignet, um durchs Wasser zu laufen und sich dann aufs Floß zu werfen. Kavita und Rupa setzen sich einander zugewandt jeweils an ein Ende des Floßes, der Bootsführer stellt sich in die Mitte zwischen ihnen. Er steuert mit genau bedachten Bewegungen der langen Bambusstange, die er vom Grund abstößt. Kavita stellt sich vor, dass da unten noch mehr Asche liegt, die in dieses Wasser verstreuten sterblichen Überreste von all den anderen geliebten Menschen – Väter, Mütter, Schwestern, Kinder. Schließlich sind sie weit genug vom Ufer entfernt, und der Bootsführer rammt die Bambusstange wie einen Speer in den sandigen Grund. Die Sonne steht nun vollständig sichtbar am
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