Geheime Tochter
männliche Verwandte ihn vertreten – Onkel, Freunde, Cousins, sogar Nachbarn. Wenn Asha eines in Indien gelernt hat, dann, dass immer eine lange Reihe von Männern bereit ist, eine althergebrachte Rolle zu übernehmen. Sie schaut ihrer Großmutter in die Augen und sieht ihre Entschlossenheit. Dadima hat Asha mit offenen Armen in diese Großfamilie aufgenommen, als hätte sie schon immer dazugehört, sie hat sie behandelt wie jemanden, der kostbar und stark zugleich ist. Deine Pflicht deiner Familie gegenüber. Meine Familie . Menschen, die Asha noch vor einem Jahr nie im Leben gesehen und mit denen sie kaum gesprochen hatte, die sie mitten in der Nacht vom Flughafen abgeholt und ihr die Touristenattraktionen gezeigt haben, obwohl sie die bestimmt längst nicht mehr sehen konnten, ihr beigebracht haben, einen lengha zu tragen, Papierdrachen steigen zu lassen, alle möglichen neuen Gerichte zu essen. Sie wurde nicht in diese Familie hineingeboren, ist nicht in ihrer Mitte aufgewachsen, aber das spielte keine Rolle. Sie haben alles für sie getan.
Und jetzt ist sie an der Reihe. Asha spürt einen Kloß im Hals und nickt zustimmend.
Die Tauben wecken Asha, als das erste Tageslicht durchs Fenster dringt. Sie hört sie auf dem Balkon picken und gurren, während sie zwischen dem Vogelfutter umhertrippeln, das Dadima jeden Morgen ausstreut, selbst heute. Asha steht auf, badet und streift einen Bademantel über, wie ihre Großmutter sie angewiesen hat.
Im Wohnzimmer ist ein großes gerahmtes Foto vonDadaji mit frischen Blumen behängt. Dadima sitzt am Tisch und schaut zum Fenster hinaus, ohne ihre übliche Tasse Tee. »Hallo, beti . Komm, wir kleiden uns an. Der pandit wird bald da sein.« Asha ist nervös, als sie das Schlafzimmer ihrer Großeltern betritt. Automatisch gleiten ihre Augen auf Dadajis Seite des Bettes. Auf dem Bett liegen zwei Saris. Dadima nimmt den blassgelben mit einer schmalen, bestickten Borte und hält ihn Asha hin. »Dein dadaji hätte dich gern in deinem ersten Sari gesehen. Zieh Unterrock und Bluse an, und dann zeige ich dir, wie der Sari gewickelt wird.«
Der andere Sari verbleibt auf dem Bett, schmucklos und reinweiß, die traditionelle Farbe, die indische Witwen für den Rest ihres Lebens tragen. Der Verzicht auf Farbe, Schmuck und Make-up sind Zeichen der Trauer. Wieder einmal staunt Asha über ihre Großmutter, die Traditionen einerseits so voll und ganz akzeptiert und sie andererseits so bereitwillig über Bord wirft. Bevor sie nach Indien kam, hätte sie eine solche Widersprüchlichkeit unerträglich gefunden, sie bei ihren Eltern oder anderen als heuchlerisch gegeißelt. Doch die Erfahrungen des vergangenen Jahres haben sie gelehrt, dass die Welt komplizierter ist, als sie je gedacht hätte. Sie wollte eine Familie suchen und hat am Ende eine andere gefunden. Sie ist nach Indien gekommen, ohne irgendetwas über ihre leiblichen Eltern zu wissen, aber voller Gewissheit, was den Rest ihres Lebens betraf, und jetzt ist es genau umgekehrt.
Dadimas Saribluse, die auf eine Frau zugeschnitten ist, die Kinder geboren und gestillt hat, ist Asha viel zu groß. Als sie vorschlägt, stattdessen ein tailliertes T-Shirt zu tragen, zögert Dadima zunächst, lenkt aber schließlich ein und gibt sogar zu, dass es gut aussieht. »Ich frage mich, warum wir das nicht alle machen«, murmelt Dadima vor sichhin, während sie Ashas Sari feststeckt. Nachdem Dadima sie angekleidet hat, begutachtet Asha sich im Spiegel und ist sprachlos. Der Sari steht ihr ausgezeichnet und ist erstaunlich bequem.
Kurz nachdem sie beide fertig angezogen sind, treffen nach und nach die Angehörigen ein. Priya, Bindu und die anderen Frauen versammeln sich im Wohnzimmer um Dadajis Foto. Einige singen leise, andere beten still. Sobald der pandit da ist, bittet Dadima Asha, ihnen auf den Balkon zu folgen. Asha knurrt der Magen, als sie an der Küche vorbeigeht, aber Dadima hat ihr bereits erklärt, dass sie erst nach der Zeremonie etwas essen dürfen.
Als alle drei draußen stehen, beugt der pandit den Kopf vor Dadima. »Wo sind Ihre Söhne, Sarla-ji?«, fragt er.
»Sie treffen uns an den ghats «, sagt sie, »aber Asha wird diejenige sein, die Ihnen bei den Ritualen assistiert, anstelle ihres Vaters.«
Ein verwirrter Blick huscht über sein Gesicht, dann ein kleines bemühtes Lächeln. »Bitte, Sarla-ji, Sie wollen doch nicht die Seele Ihres Mannes gefährden. Sie sollten einen männlichen Verwandten wählen, einen Ihrer anderen
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