Geheime Tochter
Apparat darauf. Der Techniker reicht Jasu mehrere Papiere, die keiner von ihnen beiden lesen kann, und weist Kavita an, sich auf den Tisch zu legen. Das Gel, das er auf ihrem Bauch verteilt, ist kalt und unangenehm. Sie empfindet einen überraschenden Anflug von Dankbarkeit, als Jasu sich neben sie stellt. Während der Techniker das Gerät über ihren gewölbten Bauch bewegt, versuchen beide, aus den körnigen Schwarz-Weiß-Bildern schlau zu werden. Jasu späht mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm, legt den Kopf schief und schielt mehrmals ängstlich zu dem Techniker hinüber, hofft auf einen Hinweis, was Kavitas Bauch in sich birgt. Nach einigen Minuten sagt der Techniker: »Glückwunsch, ein gesunder Junge.«
»Jaaa!«, ruft Jasu lachend. Er schlägt dem Techniker auf die Schulter und küsst Kavita auf die Stirn, eine seltene öffentliche Geste der Zuneigung. Kavitas einzige Empfindung ist Erleichterung.
Als Kavita in den Wochen nach der Untersuchung langsam klar wird, dass sie dieses Baby behalten kann, erlaubt sie sich endlich, eine Bindung zu dem Kind zu empfinden. Sie wagt verhaltene Vorfreude, zu der die hemmungslose Begeisterung ihres Mannes ihren Teil beiträgt. Nach dem Tag in der Praxis verändert sich Jasus Verhalten.Er verzichtet beispielsweise beim Abendessen auf seine Extraportion rotis , damit sie mehr zu essen hat, und er achtet darauf, dass sie sich ausruht, wenn er sieht, dass sie eine Hand ins Kreuz drückt. Nachts, wenn sie im Bett liegen, reibt er ihr die geschwollenen Füße mit Kokosnussöl ein und singt leise für ihren wachsenden Bauch. Sie weiß, dass sein Wandel hauptsächlich damit zu tun hat, dass sie einen Jungen erwartet, aber sie möchte glauben, dass das nicht der einzige Grund ist. So wie er sich in den letzten paar Monaten ihrer Schwangerschaft um sie sorgt, spürt Kavita, wie der letzte Rest Kälte ihm gegenüber dahinschmilzt. Sie erkennt jetzt seine Fähigkeit, ein fürsorglicher Ehemann zu sein, ein guter Vater. Auch er hat sich verändert seit der ersten Nacht in der Geburtshütte vor zwei Jahren. Kavita weiß, dass sie ihn nicht allein für das verantwortlich machen kann, was geschehen ist. Er ist nicht anders oder schlimmer als die anderen Männer im Dorf, wo Söhne bevorzugt werden und schon immer bevorzugt wurden.
Ihr Sohn wird keine Ausnahme bilden, das steht fest: Alle in der Familie freuen sich auf ihn. Auf einmal ist alles anders. Kavita wird umhegt und verwöhnt, bis die ersten Wehen einsetzen, und dann wird sogleich die Hebamme gerufen, damit sie ihr zur Seite stehen kann. Jasu bleibt draußen vor der Tür und eilt zu ihr, sobald er die ersten Schreie des Babys hört. Nach alter Tradition berührt Jasu die Lippen des Jungen mit einem in Honig getauchten Silberlöffel, noch bevor die Nabelschnur durchtrennt wird. Er beugt sich hinunter und gibt Kavita einen Kuss auf die Stirn. Mit glänzenden Augen wiegt Jasu seinen neugeborenen Sohn in den Armen.
Kavita wischt sich die Tränen ab. Die Rituale, die siemit Jasu und ihrem gemeinsamen Baby teilt, sind schön und bewegend, aber trotzdem kann die Freude nicht ihre Trauer vergessen machen. Jahrelang hat sie diesen Moment herbeigesehnt. Jetzt endlich ist er da, aber er ist durchdrungen von Kummer aus der Vergangenheit.
12
Orientierung
San Francisco, Kalifornien – 1985
Somer
Es ist alles bloß reine Theorie bis zu dem Tag, als der Briefumschlag eintrifft. Als Somer ihn in dem Stapel Post entdeckt, macht ihr Herz einen Sprung. Sie stellt eine Champagnerflasche in den Kühlschrank und rennt die Stufen hinunter und zum Krankenhaus. Sie haben einander versprochen, das gemeinsam zu machen, aber jetzt, wo sie den Umschlag in den Händen hält, juckt es ihr in den Fingern, ihn nach der monatelangen Warterei einfach aufzureißen.
Zuerst saßen sie zahllose Abende am Küchentisch, brüteten über Stapeln von Papieren, füllten Formulare aus, stellten Zeugniskopien, Steuerbescheide, Vermögensaufstellungen und Gesundheitsatteste zusammen. Dann kam die Überprüfung durch die Adoptionsagentur – Gespräche, Hausbesuche und psychologische Gutachten. Somer hatte große Mühe, sich nicht persönlich beleidigt zu fühlen, als die Frau von der Agentur jeden Winkel ihrer Wohnung unter die Lupe nahm, nicht nur das zukünftige Kinderzimmer sehen wollte, sondern auch einen Blick in ihre Hausapotheke warf und sogar unauffällig im Kühlschrank schnupperte.
Sie und Krishnan schluckten ihren Stolz herunter und baten
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