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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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Schätzchen.« Ihre Mutter umfasst ihre Hände. »Wie verkraftest du das? Wie verkraftet Kris es?«
    »Kris sieht die ganze Sache sehr … sachlich, ganz der Arzt. Er meint, ich reagiere zu emotional.« Fast hätte sie gesagt, dass sie mit ihm nicht mehr darüber reden kann, dass sie fürchtet, sie könnte auch Krishnan verlieren, wenn es ihr nicht gelingt, nach vorn zu schauen.
    »Für Männer ist es schwer, das nachzuvollziehen«, sagt ihre Mutter und starrt in ihre Tasse. »Es war schwer für deinen Vater.«
    Somer blickt auf. »Habt ihr deshalb nicht noch mehr Kinder bekommen?«
    Ihre Mutter trinkt einen Schluck, ehe sie antwortet. »Ich hatte eine Fehlgeburt, bevor du kamst, und nachdem du da warst, bin ich nicht wieder schwanger geworden. Damals gab es noch keine Tests, also haben wir uns einfach damit abgefunden. Wir waren so froh, dass wir dich hatten, aber ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, weil ich dir kein Geschwisterchen schenken konnte.« Ihre Mutter wischt sich eine Träne ab.
    Somer spürt einen Anflug von Schuldgefühlen für jedes Mal, als sie sich einen Bruder oder eine Schwester gewünscht hat. »Es ist nicht deine Schuld, Mom«, sagt sie. Nicht deine Schuld. Nicht meine Schuld. Sie sitzen einige Augenblicke in harmonischem Schweigen da, ehe Somer zu ihrer Mutter aufblickt. »Mom, was hältst du von Adoption?«
    Ihre Mutter lächelt. »Ich finde, das ist eine wunderbare Idee. Zieht ihr das in Erwägung?«
    »Vielleicht … so viele Kinder in Indien brauchen eine Familie, ein Zuhause.« Sie blickt auf ihre Hände, dreht an ihrem Ehering. »Aber ich finde den Gedanken so schwer erträglich, dass ich nie ein Kind zur Welt bringen werde, nie ein Leben erschaffe.« Sie kämpft mit den aufsteigenden Tränen.
    »Schätzchen«, sagt ihre Mutter, »du wirst etwas tun, das genauso wichtig ist – ein Leben retten .«
    Somers Gesicht fällt in sich zusammen und sie beginnt zu weinen. »Ich will einfach eine Mom sein.«
    »Du wirst eine großartige Mom sein«, sagt ihre Mutter und bedeckt Somers Hand mit ihrer. »Und ich garantiere dir, wenn du erst eine bist, wird das das Wichtigste sein, was du je machst.«
    Auf dem Flug nach Hause sieht Somer das Material der indischen Adoptionsagentur durch und konzentriert sich auf die ernsten Gesichter der Kinder. Es wäre etwas Großes, den Verlauf eines dieser Leben zu verändern: Chancen zu schaffen, wo es keine gibt, jemandem ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie muss daran denken, warum sie Ärztin geworden ist. Ein Zitat von Ghandi ziert die erste Seite der Broschüre: »Sei du selbst die Veränderung, die du dir für diese Welt wünschst.«
    Vielleicht hat unser ganzer Schmerz ja einen Grund. Vielleicht ist es uns bestimmt, genau das zu tun.

11
Ausgeben und sparen
    Palghar, Indien – 1985
Kavita

    Am Morgen der Untersuchung ist Kavita nervös und ihr Magen rumort. Als sie sich der Praxis nähern, hält sie eine schützende Hand über ihren gerundeten Leib. Draußen an der Tür hängt ein Schild – JETZT 200 RUPIEN AUSGEBEN UND SPÄTER 20.000 RUPIEN SPAREN –, eine eindeutige Anspielung auf die Vermeidung der Mitgift, die die Verheiratung einer Tochter kostet. Ansonsten könnte die unscheinbare Tür, durch die sie gehen, in eine Schneider- oder Schuhmacherwerkstatt führen. Drinnen stehen Frauen und Männer paarweise zusammen. Kavita fällt auf, dass sie von allen Frauen am weitesten in der Schwangerschaft ist, schon im fünften Monat.
    Jasu tritt an den Empfang und wechselt mit dem Mann dahinter ein paar Worte, zieht dann ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und reicht es über die Theke. Der Mann zählt das Geld, verstaut es in einer Metallkassette und schickt Jasu mit einer ruckartigen Kopfbewegung zurück in den Wartebereich. Kavita macht einen Schritt zur Seite, um ihm Platz an der Wand zu machen. Während sie warten, hält sie die Augen auf den groben Zementboden gerichtet. Unterdrücktes Schluchzen lässt sie aufblicken, und sie sieht eine Frau aus dem hinteren Teil der Praxis Richtung Ausgang hasten. Sie hat sich den Sari über den Kopf gezogen, und ein ernster Mann folgt ihr. Kavitaschaut wieder nach unten auf dieselbe Stelle des Fußbodens und sieht aus den Augenwinkeln, dass Jasu die Zehen krümmt.
    Der Mann am Empfang ruft ihren Namen und deutet mit einer Kopfbewegung nach hinten. Als sie durch die einzige Tür gehen, kommen sie in einen Raum, in dem gerade Platz ist für einen notdürftigen Untersuchungstisch und einen Karren mit einem

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