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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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ehemalige Professoren, Kommilitonen und Kollegen, die sie als Paar kannten, um Bestätigungen, dass sie alsAdoptiveltern geeignet wären. Sogar die örtliche Polizei musste ihre Zustimmung geben. Es war unfair und demütigend, so vielen Tests unterworfen zu werden, ihre Seele offenzulegen, während die meisten Paare ohne die geringste Beurteilung Eltern werden konnten. Aber sie taten alles, was man von ihnen verlangte, reichten ihren Antrag ein und dann warteten sie. Sie erfuhren lediglich, dass sie wahrscheinlich ein älteres Baby bekommen würden, vielleicht nicht völlig gesund, nahezu sicher ein Mädchen.
    Somer kommt im Krankenhaus an, völlig aus der Puste, und geht auf direktem Weg zu Kris’ Station. »Haben Sie ihn gesehen?«, fragt sie eine Krankenschwester, wartet aber die Antwort nicht ab. Sie sieht im Ärztezimmer nach, das leer ist, steckt dann den Kopf in den Bereitschaftsraum, weckt kurz einen schlafenden Assistenzarzt auf und geht dann zurück ins Schwesternzimmer.
    »Ich piepse ihn an«, sagt die Schwester.
    »Danke.« Somer setzt sich auf einen der Kunststoffstühle in der Nähe. Sie trommelt mit den Füßen auf den gesprenkelten Boden, zwingt sich, nicht auf den Briefumschlag zu starren. Sie hört Kris’ Stimme und sieht ihn den Flur hinunterkommen. Sie erkennt an seinem Gesicht – an dem harten Ausdruck in den Augen, den zuckenden Kiefernmuskeln –, dass er gerade den geknickten jungen Assistenzarzt, der neben ihm hergeht, zusammenstaucht. Selbst als er sie erblickt, bleibt sein Gesicht ernst, bis sie aufsteht und den großen Umschlag hochhält. Der Anflug eines Lächelns breitet sich auf seinem Gesicht aus. Er schickt den Assistenzarzt weg und kommt eilig auf sie zu. »Ist es das?«
    Sie nickt. Er fasst sie am Ellbogen und geht mit ihr ins nächste Treppenhaus. Sie setzen sich zusammen auf die oberste Stufe, öffnen den Umschlag und ziehen einenStapel Papiere heraus, an dem oben ein Polaroidfoto klemmt. Das Baby auf dem Foto hat lockiges schwarzes Haar und mandelförmige Augen, die auffallend haselnussbraun sind. Die Kleine trägt nur ein schlichtes Kleidchen, einen dünnen Silberreif am Fuß und einen neugierigen Ausdruck im Gesicht.
    »Oh Gott«, flüstert Somer und eine Hand fliegt zu ihrem Mund. »Sie ist wunderschön.«
    Krishnan blättert in den Papieren und liest: »Asha. So heißt sie. Zehn Monate alt.«
    »Was bedeutet das?«, fragt sie.
    »Asha? Hoffnung.« Er blickt lächelnd zu ihr hoch. »Es bedeutet Hoffnung.«
    »Wirklich?« Sie lacht leise auf, kämpft gleichzeitig mit den Tränen. »Na, dann muss sie uns gehören.« Sie packt seine Hand, verschränkt ihre Finger in seine und küsst ihn. »Das ist perfekt, richtig perfekt.« Sie legt den Kopf auf seine Schulter, und gemeinsam blicken sie auf das Foto.
    Zum ersten Mal nach sehr langer Zeit verspürt Somer Leichtigkeit in der Brust. Wie kann das sein, dass ich bereits verliebt bin in dieses Kind, das eine halbe Welt weit weg ist? Am nächsten Morgen schicken sie ein Telegramm an das Waisenhaus mit der Ankündigung, dass sie ihre Tochter abholen kommen.
    Die Euphorie trägt sie durch den endlosen Siebenundzwanzig-Stunden-Flug nach Indien. Somer ist aufgeregt, und das hat vielerlei Gründe: Sie war noch nie in Indien; sie wird Krishnans ganze Familie kennenlernen, sehen, wo er aufgewachsen ist, und die Orte, von denen er ihr seit Jahren erzählt. Aber wenn Somer die Augen schließt, malt sie sich vor allem aus, wie es sein wird, wenn sie zum ersten Mal ihr Baby im Arm halten wird. Sie hat Ashas Fotoin der Tasche und schaut es sich häufig an. Dieses eine Foto hat ihre Zweifel in Luft aufgelöst und alles lebendig werden lassen. Sie hat nachts wach gelegen und sich das süße Gesicht ihrer Tochter vorgestellt. Sie hat auf der Arbeit die Wachstumskarten studiert und sich Sorgen wegen Ashas Gewicht gemacht. Jetzt ist zu Hause alles vorbereitet, und über die Agentur haben sie Informationen von anderen Eltern erhalten, aber sie wissen noch immer nicht genau, was sie in Indien erwartet. Sie sind vor so einigem gewarnt worden: Fremdenangst, Kulturschock, verzögerte Entwicklung, Unterernährung – die Herausforderungen dieser Adoption sind schier endlos. Dennoch, während andere Passagiere die Augen verdrehen, wenn ein paar Kinder im Flugzeug kreischen, drücken Krishnan und Somer einander die Hand und wechseln einen freudigen Blick.
    Als sie in Bombay die Maschine verlassen, umhüllt der Flughafen Somer mit seiner penetranten Mischung

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